So fühlt es sich an, sich durchs Multiversum zu zappen

Evelyn ist nicht zu be­nei­den: In «Every­thing Every­whe­re All at Once» hüpft sie ohne Ver­schnauf­pause von einem Paral­lel­uni­ver­sum zum nächsten.

Was für eine Achterbahnfahrt! Ehrlich, ich war froh, dass ich mir diesen Film nicht im Kino habe ansehen müssen, sondern sich die stroposkopische Bildgewalt nur auf der viel kleineren Bildfläche unseres heimischen Fernsehers austoben konnte. Das gab uns auch die Gelegenheit zu Verschnaufpausen, wann immer sie nötig waren.

Ich spreche von einem Oscar-gekrönten Werk:  Everything Everywhere All at Once. Der Titel trifft den Nagel auch in Bezug auf den Stil voll auf den Kopf. Dieser Film legt von der ersten Szene ein atemloses Tempo vor.

Diese Erzählweise in der Kadenz eines Musikvideos passt hervorragend zum Leben der Hauptfigur. In dem geht es drunter und drüber. Evelyn Wang (Michelle Yeoh) betreibt einen Waschsalon. Sie schlägt sich mit ihrem Mann Waymond (Ke Huy Quan), ihrer frustrierten Tochter Joy (Stephanie Hsu) und ihrem Vater (James Hong) herum, hat die Steuerbehörde IRS am Hals und will auch ihrem kulturellen Erbe die Ehre erweisen und das chinesische Neujahrsfest standesgemäss feiern.

Details für Filmfreaks: Die Paralleluniversen unterscheiden sich auch im Seitenverhältnis, in dem wir sie zu sehen bekommen.

Aber nicht nur Evelyns kleine Welt prasselt in diesem Streifen auf Evelyn und uns, die Zuschauer ein – nein, wir bekommen es mit der ganzen Wucht der Mehrweltentheorie zu tun: Während sie bei der RSI am Pult von Deirdre Beaubeirdre (Jamie Lee Curtis) sitzt, erfährt Evelyn von ihrem Ehemann Waymond, dass sie ihre quirlige Energie nicht nur auf diesem Planeten entfaltet, sondern im ganzen Multiversum. Evelyn lernt, in ihr Ich in den anderen Paralleluniversen zu hüpfen, sich deren Fähigkeiten anzueignen und auszuloten, welch unterschiedliche Lebenswege sie hätte begehen können.

Joy verbreitet nicht nur Freude

Und sie findet heraus, ihre persönliche Familiengeschichte zum multiversellen Showdown gerät: Ihre Tochter Joy hat eine ähnliche Begabung, und sie wurde in einem anderen Universum zum grossen Antagonisten. Diese Figur, Jobu Tupaki, hat gewissermassen den Frust aus dem ganzen Multiversum angesammelt, der sich als eine Art überdimensionaler Bagel äussert. Evelyn versteht es, sich ihrer Tochter anzunähern und kann dadurch auch die Bagel-Gefahr bannen.

Das Wurstfinger-Universum gehört nicht zu meinen bevorzugten Orten im Multiversum.

Als Zuschauer werden wir wie Evelyn von einer Welt in die nächste geschleudert, ohne dass uns die Regisseure Daniel Kwan und Daniel Scheinert auch nur eine Sekunde Anpassungszeit gönnen würden. Es fühlt sich an, wie eine interdimensionale Zapp-Orgie – und das wird der Story gerecht.

Der Kontrast könnte nicht grösser sein

Darum ein Film, den ich zumindest in diesem Multiversum gerne empfehle. Er ist gewissermassen das andere Extrem zu Haruki Murakamis «1Q84», das zwar auch asiatisch geprägt ist, aber das Tempo vermissen lässt, das es in «Everything Everywhere All at Once» im Überfluss gibt.

Trotzdem: Das Spannendste am Multiversum sind die Möglichkeiten und Unterschiede zu unserer Welt. Meine Faszination fürs Thema rührt von Geschichten her, die sich diesem Was-wäre-Wenn-Gedanken verschrieben haben und uns auf Versionen unseres Heimatplaneten mitnehmen, auf denen vielleicht nur eine Kleinigkeit dazu geführt hat, dass manche Dinge ganz anders sind.

Das mag den einen als haltlose Spekulation vorkommen. Aber ich glaube, dass es ein Mittel zu tiefgründigen Erkenntnissen ist. Aber in dieser Hinsicht hat «Everything Everywhere All at Once» leider nichts zu bieten.

Beitragsbild: Mit Mann und Vater bei der RSI (Screenshot).

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