Hoffentlich ein Ausrutscher!

Wenn ein Mitar­beiter (z.B. Roland Tichy), einen dummen Blogpost veröffent­licht, ist es gerecht­fertigt, das Unter­nehmen (in diesem Fall Xing) in die Ver­antwort­ung zu nehmen? Ich finde nicht – weil das alle erpressbar macht.

Übers letzte Wochenende gab es diesen Shitstorm wegen Xing. Ausgelöst hatte ihn aber nicht das Angebot des sozialen Netzwerks aus Hamburg, sondern das Blog eines Mitarbeiters von Xing. Roland Tichy, der bis vor kurzem für «Xing Klartext» zuständig war – laut Wikipedia ein «wirtschaftsjournalistisches Angebot mit einer Plattform für Debattenbeiträge» – betreibt eine Publikation namens Tichys Einblick.

Dort nun kam im Gastbeitrag «Warum Sie mit psychopathologisch gestörten Gutmenschen nicht diskutieren sollten» ein Mann namens Jürgen Fritz zu Wort, der behauptet, dass Leute wie ich (ich würde mich als ziemlich links, ein wenig grün und als Gutmensch aus Überzeugung bezeichnen) eben «psychopathologisch gestört» und entsprechend nicht zur Führung einer Debatte in der Lage sind. Der Beitrag wurde gelöscht, man kann ihn aber hier nachlesen.

Wenn man sich die Mühe macht, sich aufzuregen, sollte man seinen Ärger richtig adressieren

Darüber muss man sich nicht aufregen, aber man kann sich aufregen, wenn man mag¹. Viele haben sich aufgeregt. Doch erstaunlich: Die sozialmediale Wut – der Shitstorm – richtet sich nicht gegen Jürgen Fritz. Auch nicht gegen «Tichys Einblick». Sondern gegen Xing, weil die dort jemanden anstellen, der als Verleger auf seiner eigenen Plattform jemandem ein Sprachrohr gibt, der nicht genehm ist. Viele haben öffentlich auf Twitter oder Facebook ihre Mitgliedschaft bei Xing gekündigt. Wie das geht, führt der (von mir sehr geschätzte) Réda El Arbi auf Facebook vor:

Tschüss Xing. Nicht mal als SoMe-Profi brauch ich einen Service, der von einem Fascho vertreten wird.

Vielleicht war dieses Posting ein Schnellschuss. Ein Kurzschluss ist es allemal. Tichy ist nicht Vorstandsvorsitzender oder CEO von Xing, sondern ein Angestellter für eine Nebentätigkeit von Xing, die viele von den Empörten (und ich auch) bis jetzt noch nicht einmal gekannt haben. Ein Shitstorm ist gerechtfertigt, wenn der Chef eines Unternehmens oder ein hochrangiger Manager sich danebenbenimmt.

Muss ein Unternehmen den Kopf für die Auslassungen seiner Mitarbeiter hinhalten?

Und auch dann müsste für meinen Geschmack dieses Fehlverhalten irgendwie relevant fürs Unternehmen selbst sein, damit man es ihm anlasten kann. Denn ich will im Umkehrschluss als nicht verantwortlicher Angestellter auch nicht für die Patzer meines Arbeitgebers verantwortlich gemacht werden. (Wobei man sich als Lohnempfänger der UBS, Mowag, Ruag, Pilatus Flugzeugwerke oder Nestlé sicher einiges anhören muss.)

Er hat den Stein ins Rollen gebracht.

Ist Tichy ein Fascho? Er hat den fraglichen Beitrag immerhin gelöscht und sich dafür entschuldigt, was eine Einsicht vermuten lässt, die dem typischen Fascho fremd sein dürfte. Trotzdem will ich ihn nicht zu sehr verteidigen, weil diese Einsicht womöglich eine Ausnahme war. Zumindest lässt das der Artikel von Übermedien vermuten:

Die in ihrer Selbstwahrnehmung nachdenkliche konservative Seite im Netz ist nicht in der Lage, Argumente zu hören, sondern stempelt in blanker, beleidigter Feindseligkeit jeden anders Argumentierenden zum Idioten. Das ist auch ein Zeichen, dass die «Aktiven und Nachdenklichen» die Aufkündigung der Regeln des friedlichen Zusammenlebens, die sie anderen vorwerfen, selbst betreiben.

Und damit sind wir bei der Ironie der Geschichte: Argumente zählen nichts mehr, auf beiden Seiten. Denn auch die Angegriffenen haben sich nicht mit Argumenten gewehrt, sondern indem sie auf einen fast unbeteiligten Dritten Druck ausgeübt haben. Forderung: «Xing soll gefälligst niemanden beschäftigen, der uns nicht passt!»

Man kann diese Forderung auch so formulieren: «Wer Dinge äussert, die uns nicht gefallen, soll seinen Job und seine Existenzgrundlage verlieren!»

Das heisst nichts Gutes für die Meinungsfreiheit. Man kann das Gesinnungsterror nennen. Der Versuch, jemanden mundtot zu machen, ist es allemal. Dabei sind wir Linken doch immer stolz auf unsere überlegene Streitkultur, die ohne Ausgrenzung, ohne Ad-hominem-Angriffe auskommt. Darum ist dieser Shitstorm keine Sternstunde, sondern ein alarmierendes Anzeichen, dass der Hass eben nicht in der SVP, Pegida und der AfD salonfähig geworden ist, sondern auch bei den «Gutmenschen». Ich hoffe, dass es ein Ausrutscher war.

Fussnoten

1) Man kann auch dagegen argumentieren: Sandsäcke gegen pseudo-psychologisches Blabla

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