Ein wirklich wichtiger Podcast der BBC

«Wenn du wegen einer Maske schon ein­mal jemanden in den so­zia­len Medien an­ge­schrien hast, dann bist du ein Soldat im Kultur­kampf», sagt der Autor von «Things Fell Apart». Sein Pod­cast ist ein Augen­öffner.

Ein Kulturkampf – er findet statt, wenn Werte und Überzeugungen aufeinanderprallen. Er entzündet sich oft an einem Detail und wird gnadenlos ausgefochten; mit wenig Chancen auf eine Einigung oder auch nur schon an eine Annäherung. Der Kulturkampf wird gern in den sozialen Medien ausgefochten. Aber es gab ihn schon vor Facebook und Twitter – mit freundlichen Grüssen von Reichskanzler Otto von Bismarck.

Der Podcast Things Fell Apart (RSS, iTunes, Spotify) beschäftigt sich mit der modernen Ausprägung dieses Kulturkampfs. Er stammt von der BBC Radio 4 und Jon Ronson, einem Journalisten, Autor und Dokumentarfilmer, den ich von The Men Who Stare at Goats kenne.

Er hat sich zum Ziel gesetzt, in seinem Podcast zu den Anfängen solcher Kulturkämpfe vorzustossen: Wer hat sie «erfunden» und wie konnte es dazu kommen, dass sie sich verfestigen, sodass viele von uns heute den Impuls haben, sich reflexartig zu positionieren, sobald irgendwo ein bestimmtes Stichwort fällt?

Hollywood war schuld

Schon die erste Folge der ersten Staffel macht klar, wie erhellend dieser Zugang ist. 1000 Dolls widmet sich einem der unerbittlichsten dieser Kulturkämpfe: der Abtreibung bzw. der Pro-Life-Bewegung. Und wenn die Darstellung von Jon Ronson tatsächlich akkurat ist, dann ist dieser Kampf nicht aus einer tiefen Überzeugung entstanden, sondern weil ein ambitionierter Filmemacher bei der Suche nach einem knackigen Stoff darauf gestossen ist:

Es sind die frühen 1970er Jahre. Frank Schaeffer ist ein amerikanischer Junge, der in den Schweizer Alpen lebt – der Sohn eines einflussreichen christlichen Kunsthistorikers – und davon träumt, eines Tages Hollywood-Filme zu drehen. Doch dafür braucht er ein Showreel, um sich zu beweisen.

Frank ist der Sohn von Francis Schaeffer, der als presbyterianischer Theologe auch ein evangelikaler Vordenker war. Die Idee, den Kampf gegen die Abtreibung zu führen, ist vom Sohn auf den Vater übergesprungen und so ist es überhaupt dazu gekommen, dass die evangelikalen Christen den Kampf gegen die Abtreibung und Roe v. Wade zu ihrer Mission erklärt haben.

Gab es nicht schon immer, ist nicht gottgewollt

Alles nur ein Unfall? Man könnte den Podcast so verstehen, aber ich rate von dieser Interpretation ab: Wir wissen nicht, ob die evangelikalen Christen in den USA die Abtreibung nicht auch ohne Frank Schaeffer selbst als fruchtbares Betätigungsfeld entdeckt hätten – auch das Telefon wurde nicht nur von einem Mann erfunden. Trotzdem gelingt es dem Podcast hervorragend, dem Eindruck entgegenzuwirken, diese Kulturkämpfe hätten schon immer existiert und, falls die Formulierung erlaubt ist, gottgewollt.

Die Folge zwei dreht sich um Dirty Books und um den Kampf einer Frau gegen Schulbücher, die sie als blasphemisch und ungehörig erachtet – mit der Pointe, dass Jon Ronson ihr nachweisen kann, dass sie zumindest eines der inkriminierten Gedichte komplett missverstanden hat.

Weiter herausstreichen würde ich die Folge Believe the Children zu Satanic Panic, A Secret Room Behind a Fake Wall zu QAnon und Many Different Lives. Letztere erklärt, wie das Wort Terf entstanden ist und, vor allem, wie es zum Schimpfwort werden konnte.

Der erste Shitstorm der Geschichte

Und uns als Freunde der Internetkultur interessiert besonders die Folge A Scottish Jewish joke. Sie legt eindrücklich dar, dass die Debatte, was im Internet denn erlaubt sein sollte und was nicht, viel älter ist als die sozialen Medien. Brad Templeton betrieb 1988 die Newsgroup rec.humor.funny und hat dort einen Witz über einen jüdischen Bauchredner gepostet.

Der war nicht sonderlich lustig, und obendrein hatte Templeton den Fehler begangen, ihn via Script automatisch just zum Jahrestag der Reichskristallnacht zu veröffentlichen. Das hat eine Art Shitstorm ausgelöst und einen Aufruf, den wir heute unter Cancel Culture verbuchen würden. Beides fand damals natürlich vor allem offline statt, indem die Uni entscheiden musste, ob sie derlei Tun dulden sollte oder nicht.

In dieser Folge, «A Scottish Jewish joke», kommt die Stärke von «Things Fell Apart» besonders gut zum Tragen: Jon Ronson gelingt es, die gegenläufigen Sichtweisen gleichermassen darzulegen und uns dazu zu bringen, ihnen etwas abzugewinnen: Ja, für mich ist der Witz nicht sonderlich lustig, aber es gibt für mich keinen Grund, ihn nicht im Internet zu erzählen. Und ja, wer andere Erfahrungen gemacht hat als ich, der hat das Recht zu fordern, dass derlei Witze an der Uni keinen Platz haben. (Es gibt in der Episode noch einen zweiten Witz über einen Gorilla und italienische Frauen, über den ich herzhaft lachen musste, um mich hinterher umso mehr zu schämen.)

Try walking in my shoes

Für mich ist «Things Fell Apart» ein wichtiger Podcast: Ein erster Schritt auf einem sehr langen Weg, der uns irgendwann dazu bringt, auch gegensätzliche Positionen anzuerkennen und auszuhandeln, wie sie alle in einer offenen und freien Gesellschaft Platz finden. Ich denke, ganz entscheidend ist dabei das Gefühl, wie befreiend es ist, wenn wir feststellen, dass wir uns nicht auf eine Seite schlagen müssen, sondern beide Perspektiven einnehmen und verstehen können.

An die etwas erratische Sprechweise von Host Jon Ronson musste ich mich erst gewöhnen. Aber seine empathische Art ist eine Wohltat. Und obwohl das jetzt ein schönes Schlusswort gewesen wäre, muss ich leider noch einmal auf den Reichskanzler zu sprechen kommen. Reichskanzler Jon Ronson sagt nämlich als Einleitung, die Amis hätten die Kulturkämpfe quasi erfunden – eine Sichtweise, der Otto von Bismarck vehement widersprechen müsste. Trotzdem, eine Diskussion zu den subtilen Unterschieden zwischen den englischen culture wars und den deutschen Kulturkämpfen erspare ich euch. Wer weiss, was das für einen erbitterten Streit auslösen würde.

Beitragsbild: Krieger im Kulturkampf (Dall-e 3).

One thought on “Ein wirklich wichtiger Podcast der BBC

  1. Lieber Matthias,
    zunächst ein Gruß in die Schweiz und ein kleines Danke, dass Du mich mit Deinem Artikel sehr schnell munter werden liessest.
    Ich muss leider sagen, selten habe ich so viel „Little“-Sens, wie Du in dem Artikel – durchaus gut geschrieben und mit vielen Wikipedia-Quellen-Verweisen – auf uns Leser ablässt, habe ich lange nicht gelesen und zumindest teilweise im Podcast gehört.
    Die knackige, reisserische, Null-Akzeptanz-vermittelnde Überschrift mit vielen starken Worten zeigt doch vor allem Eines: Der Autor, der so etwas von sich gibt, ist von seiner alleinigen Meinung über-überzeugt und vermittelt keine Differenzierung, sondern Abgrenzung, Kampf, Krieg, Elend, und Egomanie unter den „Deckmäntelchen“ Corona, Social Media & Kultur…
    (ich vermute, Dich hat er mit Social Media geködert)
    Setzen wir uns doch mit den Worten, den Worten, die die Sprache ausmachen, ein wenig auseinander:
    „Wenn… dann“ –> ausschliessende, exklusive Bedingung; wird typischerweise als Bedrohung wahrgenommen
    „Maske“ –> seit 2020 wird das nur negativ mit Corona und den Einschränkungen „konnotiert“, keine Fasnacht, Spaß oder gute Laune (schon lange mehr keine Einbrecher)
    „anschreien in sozialen Medien“ –> ich appelliere da an Dich, ggf. mal einen Hintergrundartikel zum Thema „Wie ’sozial‘ sind ‚die‘ Sozialen Medien?“ bzw. in welchem Ausmass (Beziehung, Familie, Verwandtschaft, ganze Welt?) kann eine bestimmte, getätigte Aussage von jedem/jeder gleichermassen genau so verstanden werden, wie sie ursprünglich von Person zu Person gemeint war?
    „Soldat“ –> der Autor gibt hier indirekt zu verstehen, dass es für ihn möglicherweise nicht einmal Schwarz ODER Weiss gibt; das klingt für mich eher nach „Bist Du nicht für mich, bist Du GEGEN mich!“
    „Kampf“ –> verstärkt den obigen Eindruck.

    Erfreulicherweise – leider sehr versteckt im Artikel – versuchst Du dann auf die Vielseitigkeit und Humoreske einzugehen, was die richtige Art ist, damit umzugehen.

    Passend zur aktuellen Weltlage verbreitest Du das Thema jüdische schottischen Witze zu einer Zeit, in der jewish/jüdisch von der medialen Weltöffentlichkeit als „Keywords/Hotwords“ wahrgenommen werden, das erhöht natürlich die Aufmerksamkeit – auch wenn der Podcast bereits 1 Jahr alt ist…

    Sehr erfreulich positive Wort von Dir zum Schluss nehme auch ich zum Anlass, ohne mit der hypnotisch wirkenden Stimme Jon Ronson’s Dich zu ermutigen, Dich mit „culture wars“ versus „Kulturkampf“ auseinanderzusetzen – vermutlich wirst Du Ähnliches bemerken wie beim angeloamerikanischen Begriff „error-culture“ und dem deutschen „Fehlerkultur“…

    Danke jedenfalls für den motivierenden Morgen,
    Grüße aus Wien,
    Fritz

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