Der Trieb, Apps zu killen

Eine neuro­tische Ord­nungs­liebe zwingt die Leute hier­zu­lande dazu, alle offenen Apps weg­zu­schnip­pen. Warum denn bloss?

Der öffentliche Verkehr bringt uns unseren Mitmenschen oft sehr nahe. Oft viel näher, als wir das gerne hätten.

Immerhin: Er eröffnet uns auch die Möglichkeit, echte Smartphone-Nutzer in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten. Ich gestehe: Wenn ich die Gelegenheit dazu erhalte, dann glotze ich auf fremde Displays. Ich versuche, das nicht allzu unverschämt zu tun. Ich beuge mich nicht vor oder drängle mich an die Leute heran – ich tue nichts, was meinen Ruf als unbescholtener Bürger aufs Spiel setzen könnte.

Ich schaue auch nur kurz hin: Wenn ich die App erkenne oder zumindest einordnen kann, ob Video geschaut, Musik gehört, gespielt oder kommuniziert wird, dann reicht mir das schon. Ich habe nämlich kein Interesse zu lesen, was da gewhatsappt wird. Naja, bei den Videos, Podcasts oder Spielen interessiert mich der Titel schon – aber die Wahrung der Privatsphäre der Mitreisenden hat klar Vorrang vor meiner persönlichen Neugierde.

Fremden Leuten aufs Display schielen.

Etwas ist mir bei dieser Feldforschung aufgefallen. Manche Leute – und es sind nicht wenige – fühlen sich zu nutzlosen Aufräumaktionen genötigt. Sie drücken bei ihrem iPhone den Home-Knopf doppelt, was bekanntlich die Task-Ansicht mit den offenen Apps öffnet. Sie beginnen dann, wild eine App nach der nächsten nach oben wegzuschnippen. Wenn die Task-Ansicht leer ist, lehnen sie sich beruhigt zurück und sperren das Telefon.

Nutzlos bis kontraproduktiv

Ich sehe das mit Befremden. Erstens ist es eine Zeitverschwendung. Zweitens nutzt es den (ohnehin nicht über alle Zweifel erhabenen) Home-Knopf ab. Drittens ist unter Umständen sogar kontraproduktiv, da manche Apps im Hintergrund erwünschte Dinge tun.

In der Task-Ansicht Apps killen: Warum denn bloss?

Ich sehe das bei Leuten, die wahrscheinlich nicht wissen, dass Smartphone-Betriebssysteme das Multitasking anders handhaben als die klassischen Desktop-Systeme, bei denen es tatsächlich sinnvoll ist, unbenötigte Programme und Prozesse zu beenden. Auch denen müsste allerdings irgendwann mal auffallen, dass die Aufräumaktionen weder bezüglich Leistung noch beim Batteriebedarf viel bringen. (Sinnvoll ist allerdings, die Hintergrundaktivitäten der Apps einzudämmen.) Ich sehe das Verhalten aber auch bei Leuten, denen ich schon mehrfach erklärt habe, dass Apps nur dann auf diese Weise beendet werden müssen, wenn sie hängen oder sonstwie spinnen. Ansonsten verwalten sich iOS und die anderen Systeme ganz gut selbst.

Ist das in anderen Kulturkreisen auch so?

Es scheint ein hierzulande weit verbreiteter Ordnungstrieb zu wirken, der stärker ist als die Vernunft – und ich wette, dass in Kulturen, denen man einen weniger ausgeprägten Hang zur peniblen Ordnung nachsagt, diese App-Wegschnipserei nicht gebräuchlich ist. Für entsprechende Rückmeldungen in den Kommentaren bin ich jedenfalls dankbar.

Wie auch immer das sein mag: Bei den Smartphone-Verhaltensweisen tut sich ein riesiges Betätigungsfeld für die Soziologen und Ethnologen unter uns auf…

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