Beitragsbild: Die KI gibt auch keine Konzerte (Bruce Springsteen & The E Street Band am New Orleans Jazz & Heritage Festival 2012, Takahiro Kyono/Flickr.com, CC BY 2.0 Deed).
Meine Güte! Jetzt ist alles verloren! Bald wird in dieser verrückten Welt nichts mehr existieren, das uns Halt gibt. Nicht einmal mehr die Musik – die unsterblichen Songs von grossartigen Künstlerinnen und einzigartigen Musikern werden uns noch Trost und Zuspruch vermitteln können.
Das war meine erste Reaktion, nachdem ich mit suno.ai gespielt hatte. Es handelt sich um eine Web-Anwendung, die etwas ganz Ähnliches tut wie Midjourney oder Dall-e: Sie nimmt eine kurze Beschreibung entgegen und spuckt nach ein paar Sekunden ein fertiges Werk aus. Nur ist es bei Suno kein Bild, sondern ein Musikstück – fixfertig, mit Melodie, Text und Gesang.
Und das Resultat? Es ist nicht dilettantisch. Es klingt nicht nach Übungsraum und auch nicht nach Demoband, sondern nach einer zu Ende produzierten Nummer, die im Radio laufen könnte, ohne Anrufe von irritierten Hörerinnen oder Hörern auszulösen.
«In dieser Welt aus Nullen und Einsen»
Beispiel: Der Prompt «Ein fröhliches Stück im Stil von 8-bit-Soundtrack eines Computerspiels, das als Teppich für die Radiosendung ‹Nerdfunk› dienen könnte» führt zum Song «Pixel Adventure», der als «8-bit upbeat electronic» beschrieben wird und in zwei Varianten (hier und hier) angeboten wird.
Mit «Teppich» meinte ich, dass der Song dezent genug ist, um im Hintergrund zu einer Moderation zu laufen. Diese Vorgabe erfüllt der Song definitiv nicht. Aber gewisse Ohrwurm-Qualitäten hat er ohne Zweifel. In einem Nintendo-Game würde er nicht weiter auffallen. Bemerkenswert ist auch, dass er so lange läuft, wie man gern hätte, also potenziell unendlich. Drückt man auf Stopp, ergibt sich ein mehr oder weniger gelungenes, abruptes Ende.
Ach ja und darf ich aus den Lyrics zitieren?
Mit jedem Sprung und jedem Schritt (ooh-yeah)
In diesem digitalen Labyrinth
Wir sind bereit für das grosse Spiel (oooh)
In dieser Welt aus Nullen und Einsen
Kein Zweifel: Suno wird einschlagen wie eine Bombe. Es steht ausser Zweifel, dass es nur eine Frage von Wochen ist, bis wir die Erzeugnisse dieser Anwendung zu hören bekommen, ob wir wollen oder nicht.
Fahrstuhlmusik à la carte
Trotzdem! Mit etwas Distanz halte ich meine erste Spontanreaktion für gefühlsduselig und überdramatisch. Nein, die Kunst wird nicht untergehen und das Abendland auch nicht.
Suno wird das produzieren, was man gemeinhin als «Musik zum Weghören» oder auch als «Fahrstuhlmusik» bezeichnet. Für Youtuberinnen, Radiomenschen, Hörspielproduzentinnen, Werber und jegliche Fabrikanten von audiovisuellen Produkten ist es natürlich grossartig, wenn sie nicht auf Plattformen mit gemeinfreier Musik nach der passenden Untermalung suchen müssen, sondern sich von der KI etwas erzeugen lassen, was vom Stil und der Länge genau zu den Anforderungen passt.
Aber die emotionalen Ansprüche, die wir an die Musik stellen, befriedigt Suno nicht. Im Gegenteil: Für Bands, Künstlerinnen, Songschreiber und Produzentinnen ergeben sich neue Chancen. Ich bin überzeugt, dass Suno ein vermehrtes Bedürfnis für authentische, nahbare Musik-Erlebnisse schaffen wird – also das exakte Gegenteil von dem, was wir von der künstlichen Intelligenz zu hören bekommen. In den KI-Endprodukten – gleichgültig, ob es ein Text, ein Bild, ein Video oder ein Musikstück ist – steckt eben kein echtes Leben. Es gibt nichts, was nach menschlicher Erfahrung, nach Leidenschaft, nach Freunde und Angst riecht, nach Begierde und anderen Auswüchsen einer menschlichen Existenz.
Wo bleibt die Geilheit? Und der Subtext?
Um das zu beweisen, habe ich Suno mit der Aufgabe betraut, mir das Gegenstück zum Song I’m on fire von Bruce Springsteen zu erstellen, das die «Geschichte aus der Sichtweise der Frau erzählt». Suno hat sich zuerst am Künstlernamen gestört, doch nachdem ich The Boss aus dem Prompt gestrichen habe, gab es wiederum zwei Varianten eines Songs namens «Burning Desire» (hier und hier). Der Songtext umfasst u.a. diese Strophe:
I can feel the heat, the flames are rising higher
My heart’s on fire, consumed by your desire
But you’re just a spark, leaving ashes in your wake
I’m left to wonder if my heart you’ll ever take
Auch dieses Stück könnte im Radio gespielt werden. Aber es enthält nichts von den Dingen, die bei «I’m on fire» mitschwingen – nichts von der, Pardon, Geilheit des Protagonisten, kein Hauch von der Anrüchigkeit dieser Affäre, über die so viel im Dunkeln bleibt.
Natürlich würden wir uns bei einem echten Gegenstück auch fragen, ob die Frau genauso in Liebe entbrannt ist oder vielleicht ganz andere Motive hat. Vielleicht ist sie eine Intrigantin, die zwei Männer aufeinanderhetzt? Vielleicht will sucht sie kein sexuelles Abenteuer, sondern den Absprung aus einer lieblosen Ehe? Von all diesen Fragen, die bei einem guten Popsong zwischen den Zeilen mitschwingen, ahnt die KI nichts.