Schwarz-Weiss-Foto von Menschenmenge, Hand hält Schild mit der Aufschrift «RESIST».

Die unfassbare Nibelungentreue der Twitter-Community

Seit drei Jahren ist Twit­ter im Be­sitz von Elon Musk. Wie viele User haben der Platt­form seit­dem den Rücken ge­kehrt? Eine Ana­lyse unter meinen Lieb­lings-Twit­te­rern zeigt: Der An­teil ist ge­ring.

Wie steht es um Twitter? Genau vor drei Jahren, am 28. Oktober 2022 vollzog Elon Musk seine Übernahme. Als Konsequenz erlebten erst Mastodon und dann Bluesky Zulauf. War es ein Exodus, wie damals postuliert? Drei Jahre später ist die Verrohung auf der Plattform nicht zu leugnen. Trotzdem harren manche aus.

Wie gross ist der Anteil dieser Nibelungen-Getreuen? Von Musk ist auf diese Frage keine verlässliche Antwort zu erwarten. Zum Glück habe ich die Möglichkeit, selbst eine Stichprobe zu nehmen. Diese Chance verdanke ich diesem Blog hier: Am 1. Oktober 2009 zählte ich dreissig meiner Lieblings-Twitterer auf¹. Das waren engagierte Nutzerinnen und Nutzer, die einen entscheidenden Einfluss darauf hatten, dass viele Leute – ich inklusive – den Kurznachrichtendienst als eingeschworene, unterhaltsame und sinnstiftende Community wahrnahmen.

Wie steht es 16 Jahre später um diese Accounts? Ich habe sie (genau am 1. Oktober 2025) der Reihe nach aufgerufen, das Datum der letzten Wortmeldung erfasst und eine Einteilung in die Kategorien aktiv, sporadisch aktiv, eingeschlafen und gelöscht vorgenommen². Das ist das Resultat:

Kreisdiagramm zur alten Twittergarde: 50 % gelöscht (rot), 25 % eingeschlafen (gelb), 12,5 % sporadisch (hellgrün), 12,5 % aktiv (dunkelgrün).
Wie aktiv die Lieblings-Twitterer von 2009 heute noch sind.

Knapp ein Fünftel ist noch am Ball und ein weiters Fünftel schaut gelegentlich vorbei. Deutlich mehr als die Hälfte (62 Prozent) hat sich verabschiedet. Das lässt sich genauso gut positiv wie negativ werten:

  • Wer Elon Musk wohlgesonnen ist, wird herausstreichen, dass sich diese Fluktuation in einem völlig normalen Rahmen bewegt. Niemand kann erwarten, dass das Engagement für eine Plattform über 16 Jahre stabil bleibt.
  • Doch es handelt sich hier um eine besondere Nutzergruppe, nämlich um Leute, die damals mit Engagement und Herzblut bei der Sache waren. Immerhin ein Drittel hat ihre Aktivitäten nicht nur zurückgefahren, sondern den Account gelöscht und die Brücken zu dieser Vergangenheit abgebrochen. Und das ist eine klare Misstrauensbekundung.

Die Aussteigerrate ist seit Elon Musks Übernahme nur leicht angestiegen

Lässt sich dieser Eindruck auf andere Weise erhärten? Zur Klärung würde beitragen, wenn wir herausfinden, wann ein Account verstummte: Wenn es innerhalb der letzten drei Jahre passierte, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich um eine Protesthandlung handelte. Sollte es vorher passiert sein, dann liegt mutmasslich ein anderer Grund vor. Gerade die stillgelegten Accounts wären für diese Einordnung wichtig. Doch leider lässt sich das Löschdatum nicht zuverlässig verifizieren. Ich habe es mit Archive.org probiert, doch diese Methode scheint nicht zuverlässig genug.

Darum verwende ich stattdessen ein Diagramm, das zeigt, wann der letzte Tweet abgesetzt wurde. Es ergibt folgendes Bild:

Balkendiagramm «Letzter Tweeet» von 2009 bis 2025. Steigerung der Tweets in 2023 und 2025, mit höchstem Wert 2025. Die Jahre sind auf der X-Achse, Anzahl Tweets auf der Y-Achse.
Seit Elon Musks Machtübernahme haben nur wenige Leute aus meiner Ur-Bubble die Segel gestrichen.

Die grüne Spalte visualisiert die Zahl der Accounts, die 2025 Tweets absetzten; also grob die Leute aus den Kategorien aktiv und sporadisch. Die orangen Spalten repräsentieren die Accounts, die als eingeschlafen gelten. Bei denen ist eine Häufung in den letzten drei Jahren zu beobachten. Allerdings bei einer so dünnen Datenlage, dass wir das nicht überinterpretieren dürfen.

Nur wenig Schwund in einem Jahrzehnt

Dieser Befund verstärkt sich bei einer Wiederholung der Analyse mit den Accounts, die vor elf Jahren in diesem Blogpost zum Zug kamen. Das sind die 24 Leute, mit denen ich 2014 am intensivsten interagierte³. Von ihnen ist genau die Hälfte noch aktiv, 29,2 Prozent twittert sporadisch. Lediglich 8,3 Prozent der Accounts sind eingeschlafen und 12,5 Prozent wurden gelöscht.

Tortendiagramm zeigt den Verbleib der alten Twittergarde: 50 % aktiv (dunkelgrün), 30 % sporadisch (hellgrün), 10 % eingeschlafen (gelb), 10 % gelöscht (rot).
Die einflussreichen Twitterer von 2014 sind heute grossmehrheitlich noch immer dabei.

Das ist ein deutlicher Fingerzeig, dass der Schwund über die Jahre gewichtiger ist als die durch Elon Musk ausgelösten Abgänge. Und auch wenn die Datenlage dünn ist, bin ich beeindruckt, wie enorm gross in meiner Kern-Bubble die Verbundenheit zu Twitter ist. Ob aus Gewohnheit, Nostalgie oder Überzeugung – ein beachtlicher Teil der Nutzerinnen und Nutzer bleibt am Ball. Das kann als fatale, unverständliche Trägheit gewertet werden – und als Mitschuld daran, dass Twitter einen gesellschaftlichen Einfluss ausüben kann, den viele inzwischen als gefährlich taxieren. Denn diese Leute (zu denen ich zähle) stellen sich die Frage, ob es ethisch ist, zu bleiben nicht. Oder sie beantworten sie mit Ja.

Sind das alles Mitläufer oder Ewiggestrige? Leute, die ihre Reichweite nicht aufgeben wollen? Oder Aktivisten, die ums Verrecken einen positiven Einfluss ausüben müssen? Wenn ich mir diesen Personenkreis ansehe, von dem ich einen signifikanten Anteil persönlich kenne, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Idee hinter Twitter stärker ist als der zerstörerische Einfluss von Musk: Die Leute sind aus einer Mischung aus Überzeugung und Sturheit noch da. Sollte es nach ihnen gehen, ist die Hoffnung auf eine Wende zum Besseren zwar unwahrscheinlich, aber nicht komplett unbegründet …

Fussnoten

1) Um genau zu sein, sind es bloss 29. Der dreissigste Account, den ich damals empfohlen habe, war mein eigener. Für die Analyse klammere ich ihn aus, weil es erstens damals eitel war, ihn in die Liste aufzunehmen, und weil ich sonst die Möglichkeit hätte, das Resultat der Analyse zu beeinflussen.

2) Als aktiv gilt ein Account, wenn er sich in den letzten dreissig Tagen zu Wort gemeldet hat (das sind noch fünf). Die Kategorie sporadisch weise ich zu, wenn die letzte Wortmeldung weniger als ein Jahr alt ist (sechs Accounts). Falls sie älter als ein Jahr ist, gilt das Twitter-Konto als eingeschlafen (acht Accounts) . Die Kategorie gelöscht verwende ich, wenn es den Account nicht mehr gibt (sechs Accounts) oder der Account zwar noch vorhanden ist, aber keine Inhalte mehr hat (vier Accounts).

3) Zur Vermeidung von Doppelungen habe ich diejenigen Accounts weggelassen, die bei der Analyse von 2009 zum Zug gekommen ist.

Beitragsbild: Die Botschaft meiner Twitter-Bubble ist deutlich (Sides Imagery, Pexels-Lizenz).

Ein Kommentar zu «Die unfassbare Nibelungentreue der Twitter-Community»:

  1. Dazu fällt mir ein italienisches Sprichwort ein „tra il dire e il fare c’è di mezzo il mare“, „zwischen Sagen und Tun liegt ein Meer“.

    Auch Leute, die Überzeugungen vertreten, handeln nicht immer danach.

    So der Journalist, der fast jährlich einen Artikel schreibt, dass man WhatsApp nicht mehr verwenden sollte und was die Alternativen sind, aber dann trotzdem wieder freudig Tipps für die neue WhatsApp-Version veröffentlicht.

    Oder der „Klimakleber“, der „ausnahmsweise“ nach Übersee in die Ferien fliegt.

    Oder der Aktivist, der eine antikapitalistische Demonstration auf Instagram ankündigt und sie mit seinem iPhone filmt.

    Oder auch ich, der zu oft mit dem Auto statt mit dem Velo einkaufen fährt. Natürlich legt man sich für sich selbst immer eine gute Begründung bereit.

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