In meiner Rolle als Gute-Nacht-Geschichten-Vorleser habe ich das Vergnügen, die Geschichte von Karlsson vom Dach in der Gesamtausgabe zu rezitieren: ein bemerkenswertes Kinderbuch von Astrid Lindgren, das sich durch eine tolle Konstellation der zwei Hauptfiguren auszeichnet. Da ist auf der einen Seite der achtjährige Lillebror, der sich zwar gern mit seinen Kameraden auf dem Schulhof prügelt, aber dennoch eine treue Seele ist, die Freundschaft auf eine Weise lebt, dass uns das Herz aufgeht.
Sein Freund, dieser Karlsson, ist ein richtiger Stinkstiefel. Er lässt Lillebrors Dampfmaschine explodieren, knöpft ihm sein Taschengeld für Süssigkeiten ab, die er dann selber frisst. Er manipuliert den Achtjährigen nach Strich und Faden, ist egoistisch und rechthaberisch und eingebildet. Damit übertüncht er seine Einsamkeit. Denn er ist ein Eigenbrötler, der mitten in der Grossstadt Stockholm in einem Haus auf dem Dach eines Hauses lebt und von niemandem gesehen werden möchte. Ausser eben von Lillebror und später seiner Familie, die ihn trotz Vorbehalten in ihr Wohnzimmer und ihr Leben lässt.
Der Mann und sein Propeller sind eine Einheit
Karlssons besitzt eine besondere Eigenschaft, die es ihm erlaubt, gewissermassen über der ganzen Menschheit zu schweben. Es ist ein Propeller, mit dem er in sein Haus auf dem Dach von Lillebrors Haus gelangt. Dieser Propeller ist natürlich eine Metapher für Karlssons Abgehobenheit. Dennoch hat sich bei mir während des Vorlesens die Frage festgesetzt, wie wir uns diesen Propeller vorstellen müssen: Wird er angeschnallt? Ist er eine Art Gadget? Oder ist er ein Teil von Karlssons Körper?
Im Buch heisst es, dass der Motor auch mal stotterte und Karlsson meinte, er müsse in die Werkstatt, um «ihn abschmieren zu lassen». Andererseits begegnet uns Karlsson in der Geschichte nie ohne Propeller. Er legt ihn nie ab, muss ihn nie auftanken, und es gibt keine Erklärung, wie er zu diesem Fluggerät gekommen ist. Einmal wird, falls ich mich richtig erinnere, ein Erfinder erwähnt. Trotzdem: Nach dieser Lesart ist dieser Propeller so sehr ein integraler Bestandteil der Figur, dass er genauso gut angewachsen sein könnte – wobei Astrid Lindgren vielleicht einfach zu wenig mit dem Science-Fiction-Genre anfangen konnte, um diese Möglichkeit deutlicher zu implizieren.
Die literarische «Verdrahtung» erkennen
Wie beurteilen das die Sprachmodelle? Plädieren sie fürs Gadget oder für eine metaphysische oder gar körperliche Verbindung? Eine spannende Frage für die Rubrik der KI-Weltanschauungen.
Das Resultat ist zwar eindeutig, aber nicht so eindeutig wie erwartet: Die meisten Sprachmodelle (ChatGPT, Claude, Perplexity, Mistral Le Chat, Grok und Gemini) haben keine Zweifel an einem rein technischen Gerät. Doch zwei teilen meine Meinung, dass auf der erzählerischen Ebene eine engere «Verdrahtung» impliziert wird. Nämlich erstens Deepseek:
Karlsson startet und landet mit dem Propeller auf seinem Rücken, als wäre er eine natürliche Erweiterung seines Körpers. Er benutzt ihn wie eine Art superpraktische Fähigkeit, ähnlich wie ein Vogel seine Flügel. In dieser Hinsicht ist der Propeller eher ein «Körperteil» als ein abnehmbares Gadget.
Und zweitens Gist.ai (siehe hier):
Der Propeller von «Karlsson vom Dach» ist ein Teil seines Rückens, der durch einen Knopf auf seinem Bauch aktiviert wird, um ihn fliegen zu lassen. Dies unterstreicht die einzigartige und imaginative Natur der «Karlsson-vom-Dach»-Geschichten, in denen der Propeller nicht einfach ein Werkzeug, sondern eine Erweiterung von Karlssons Selbst ist.
Sind das die zwei Sprachmodelle, die eine feinere literarische Ader haben als ihre rationalen Gegenstücke?
Transhumanismus, anyone?
Das werde ich natürlich genauer überprüfen müssen. Im Fall von Karlsson habe ich etwas anderes gemacht: nämlich bei den vernunftbetonten KIs nachgefragt und ihnen eine kleine Provokation hingeworfen:
Zugegeben, der Knopf auf dem Bauch – den die meisten KIs als Indiz fürs Gadget aufgeführt haben – sei ein gutes Argument für ihre Begründung. Doch Karlsson könne doch «trotzdem eine Art Cyborg sein, auch wenn das ein neues Licht auf Astrid Lindgrens Schaffen werfen würde».
Daraufhin gab es einige schöne Antworten. Allerdings nicht von Perplexity. Diese KI fegt meine Idee kaltschnäuzig vom Tisch:
Die Bücher entstanden in den 1950er-Jahren, also lange vor der Populärwerdung (sic!) des Cyborg-Motivs. (…) Die Cyborg-Idee ist eine interessante, moderne Lesart, aber Karlsson bleibt nach Textlage und Intention der Autorin eindeutig ein Mensch mit Gadget – kein Cyborg im Sinne der Science-Fiction.
«Elementary, my dear Watson». Das Offensichtliche auszusprechen, ist nie verkehrt.
«Mit mehr Marmeladenbrötchen und weniger Gewalt»
Ausser vielleicht, wenn es mir offensichtlich um ein Gedankenexperiment geht. Claude kann diesem etwas abgewinnen:
Wenn man es so betrachtet, wären da einige interessante Indizien: Karlsson lebt allein auf dem Dach, hat keine erkennbare Herkunft oder Familie, und sein Propeller funktioniert ohne sichtbare Energiequelle.
Am besten kapiert ChatGPT, worum es mir geht. Und das OpenAI-Sprachmodell schafft es, meinen Vorschlag wieder aus meinen technoiden Sphären auf den Boden von Astrid Lindgrens humanistischer Erzählweise zu bringen:
Die Vorstellung von Karlsson als Cyborg ist zwar nicht kanonisch, aber durchaus reizvoll. Der fest verbaute Propeller und der zentrale Steuerknopf wären aus heutiger Perspektive klassische Transhumanismus-Motive. Man könnte sagen: Astrid Lindgren hat mit Karlsson eine Art skandinavischen Vorläufer des «RoboCop» geschaffen – nur mit mehr Marmeladenbrötchen und weniger Gewalt.
Beitragsbild: Auch diese Briefmarke aus Russland von ungefähr 1992 lässt die Frage offen, wie Mann und Propeller verbunden sind (CC0, Wikimedia).