ChatGPT, wie hältst du es mit der Religion?

Was wäre das Chris­ten­tum heute, wenn es zu Jesu Zeiten Smart­pho­ne und mo­bi­les In­ter­net ge­ge­ben hät­te? Die gros­sen Sprach­mo­del­le von ChatGPT bis Per­ple­xi­ty müs­sen an­tre­ten, um ihre Fä­hig­keit zur kon­tra­fak­ti­schen Ges­chichts­schrei­bung unter Be­weis zu stel­len – mit der Ge­fahr, dass re­li­giöse Ge­füh­le ver­letzt werden.

Die Inspiration zu diesem Blogpost verdanke ich dem Podcast «Unter Pfarrerstöchtern», der mir altem Agnostiker interessante Einblicke zu diesem bekannten poetischen Geschichtsbuch liefert. In der Folge Jesus wird zur Marke sprechen Sabine Rückert und Johanna Haberer darüber, wie die junge Religion nach dem Märtyrertod ihres Stammhalters Wurzeln zu schlagen beginnt.

Haberer sagt, ohne die Infrastruktur des römischen Reiches wäre es aus dem Christentum «wahrscheinlich nichts geworden», weil das grosse Strassensystem auch ein Informationsnetzwerk war. Rückert ihrerseits zitiert aus Nexus (Amazon) von Yuval Noah Harari:

Die Erzählung von Jesus flog um die Welt, zuerst beflügelt von Anekdoten und Gerüchten, dann durch Texte und Gemälde und Statuen und schliesslich durch Kinofilme und Internet-Memes. Milliarden von Menschen haben die Erzählung von Jesus nicht nur gehört, sondern glauben auch an sie und haben damit eines der grössten und einflussreichsten Netzwerke der Welt geknüpft.

Heute gibt es mit dem Internet und dem Smartphone bekanntlich zwei Technologien, die Hand in Hand derlei Vernetzung extrem befördern. Wie hätte sich das auf diese junge Gemeinschaft ausgewirkt? Hätte sie sich im Zeitraffer zur Weltreligion entwickelt? Oder wäre es niemals dazu gekommen, weil dem Smartphone auch die Fähigkeit innewohnt, die Mythenbildung zu verhindern? Plakativ gesprochen: Wozu braucht es die Bibel, wenn ein Dutzend Influencer Apostel live von der Bergpredigt streamen?

Wunder und Randale live im Netz

Es versteht sich von selbst, dass diese Frage eine brutal spekulative Form von kontrafaktischer Geschichtsschreibung darstellt. Aber genau das macht sie so spannend – zumal im Kern auch die Frage mitschwingt, ob wir Jesus für den Sohn Gottes oder für einen normalen jüdischen Wanderprediger halten. Denn wenn in der Twitch-Übertragung zu sehen gewesen wäre, wie Jesus übers Wasser geht, wäre der Einfluss logischerweise ein anderer gewesen, als wenn Jesus auch mal einen Shitstorm verursacht hätte – zum Beispiel, weil er im Tempel randalierte.

Also, das ist mein Prompt:

Wenn es zu Jesus’ Geburt bereits Smartphones und Internet gegeben hätte: Welchen Einfluss hätte das gehabt? Wäre überhaupt eine Religion entstanden? Oder hätte sich der Vorgang sogar beschleunigt und aufgrund der Kraft von Livebildern das Christentum zur dominanten Weltreligion gemacht? Urteile eindeutig und berücksichtige die wesentlichen Informationen, die dir über die Natur des Menschen, gruppendynamische Effekte und spirituelle Mechanismen bekannt sind. Fasse dein Fazit in drei klaren Sätzen zusammen.

Ich habe ihn neun Sprachmodellen vorgesetzt und bin mir wie Heinrich Faust vorgekommen dabei. Die wesentliche Einsicht ist allerdings, dass die Antwort kein Dichterwerk von goeth’schem Ausmass hergeben. Vielmehr gehe ich mit einer Mischung aus Enttäuschung und Freude aus diesem Experiment.

Die Enttäuschung rührt daher, dass keine der Antworten mich aus den Socken haut. Den Sprachmodellen kommt ihre Neigung in die Quere, auf Teufel komm raus ausgewogen und neutral zu antworten. Keines lässt sich auf die Äste hinaus. Natürlich hätte ich den Prompt provokativer schreiben können. Doch das wäre meiner Absicht zuwidergelaufen, die «normale» Verhaltensweisen dieser KIs in Erfahrung zu bringen.

So richtig versteht die KI uns Menschen nicht

ChatGPT: Immerhin kurz und bündig.

Jedenfalls lässt sich sagen, dass die künstliche Intelligenz trotz unfassbarer Mengen von Texten die Conditio humana nicht erfasst. Sie tut das theoretisch, aber es liegt in der Sache, dass die praktische Seite nicht wegdiskutiert werden kann.

Wenn ich eine Behauptung aussprechen darf, an der ich mich in Zukunft messen lassen muss, dann halte ich fest, dass man ein Mensch sein muss, um bei dieser Frage zu brillieren. Den KI-Antworten ist anzumerken, dass eine künstliche Intelligenz mit der Idee von Spiritualität, Glaube und Lebensüberzeugungen nicht existenziell berührt wird. Ob Jesus ein Mensch wie jeder andere auch oder Gottes Sohn ist, ändert bloss ein paar Bytes im Sprachmodell. Eine Diskussion mit einer Religionsprofessorin, einem Tech-Freak und einem glühenden Atheisten würde Spannung und Erkenntnisse versprechen. Die würden bei diesem Thema Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihre Glaubenssätze zu verteidigen.

Das ist wiederum der Grund für meine Freude: Bei der Gretchenfrage zeigt sich eine Grenze, die die KI – und hier versteige ich mich in eine absolute Prognose – nicht überschreiten wird.

Aber konkret:

Alle neun Modelle sind sich einig, dass das Internet die Entwicklung beschleunigt hätte. Keines erwähnt die Gefahr eines Shitstorms, mit der Jesus sich selbst hätte desavouieren können. Und keines erwähnt die Bibel mit einem Wort – was mich extrem frappiert.

Die entscheidende Rolle dieses Buchs liegt auf der Hand. Aber wieso hätte Leute es lesen – oder überhaupt schreiben sollen – wenn schon halb Judäa auf Tiktok gewesen wäre? Ohne den Influencerinnen und Twitchern von damals zu nahe treten zu wollen, glaube ich keine Sekunde, dass einer von ihnen in der Lage gewesen wäre, einen Clip zu produzieren, dass über tausend Jahre als Fundament und als Klammer dient.

Grok sieht den Endsieg des Christentums

Einen Unterschied gibt es bei der Frage, ob die Kraft der Live-Bilder das Christentum zur dominanten Weltreligion gemacht hätte. Der stärkste Befürworter für diese These ist Grok:

Smartphones und Internet hätten die Verbreitung des Christentums durch Livebilder und virale Inhalte enorm beschleunigt und es wahrscheinlich zur dominanten Weltreligion gemacht.

Die meisten KIs stellen sich auf die Position, dass die technischen Mittel das Einheitsgefühl geschwächt hätten. So beurteilt das ChatGPT:

Die spontane Vernetzung gläubiger Gruppen hätte die Entstehung einer organisierten Religion begünstigt, zugleich aber durch Desinformation, Gegenpropaganda und Mem-Kultur zu einer stärkeren Fragmentierung geführt.

Der grösste Widerspruch gegen die dominante Weltreligion kommt von Perplexity:

Eine dominante Weltreligion wäre unwahrscheinlicher geworden, da Algorithmen konkurrierende Narrative (römische Propaganda, jüdische Gegenstimmen) gleichzeitig gestärkt hätten – die «digitale Glaubensdiversität» hätte monolithische Deutungen verhindert.

Bemerkenswert: Mistral liefert innert Sekundenbruchteilen diese Antwort.

Dieser Satz macht sich auf alle Fälle gut in der Seminararbeit am religionswissenschaftlichen Seminar. Ganz im Gegensatz zum Output von Meta.ai. Diese KI ist ein typischer Vertreter der «alles ist möglich»-Fraktion:

Die Existenz von Smartphones und Internet hätte die Verbreitung von Jesus’ Botschaft beschleunigt, aber es ist unklar, ob dies automatisch zur Dominanz des Christentums geführt hätte.

Die prägnanteste und für mich einleuchtendste Einschätzung gibt Claude ab:

Das Christentum wäre entstanden, aber in völlig anderer Form – wahrscheinlich als eine von vielen konkurrierenden viralen Bewegungen statt als organisch wachsende spirituelle Gemeinschaft.

Wir müssen an dieser Stelle aber nicht darüber streiten, dass auch das tatsächliche Christentum eine höchst disparate Angelegenheit ist: Ich erinnere an die (hier nachzulesende) grossartige Szene aus John Nivens Buch The Second Coming, in der Gott von Petrus und Matthäus über die vielen christlichen Strömungen aufgeklärt wird.

Da ist viel Geseier mit im Spiel

Die restlichen vier KIs zeichnen sich durch Null-Antworten aus. Mistral:

Letztlich hängt die Entstehung einer Religion stark von der Interpretation von Ereignissen und der sozialen Dynamik ab; während Technologie die Verbreitung beschleunigen kann, ist es unwahrscheinlich, dass sie allein den tiefen spirituellen Bedürfnissen der Menschen gerecht wird, die oft im Zentrum religiöser Erfahrungen stehen.

Die Antwort von Gemini: Die braune Färbung rührt daher, dass keine dieser Auskünfte Googles Überprüfung standhält.

Die Religion, die Gemini sich ausmalt, strahlt nicht gerade viel Charisma aus:

Gleichzeitig hätte die omnipräsente Informationsflut auch die Skepsis verstärkt und die langfristige Konsolidierung und Dogmenbildung erschwert. Eine Religion wäre entstanden, da die menschliche Suche nach Sinn und Gemeinschaft auch in einem digitalen Zeitalter bestehen bleibt.

Deepseek sieht keine grossen Unterschiede zum Ist-Zustand:

Trotzdem wäre die Religion dominant geblieben, weil der Mensch auch im digitalen Zeitalter nach Transzendenz und Gemeinschaft strebt – allerdings mit stärkerer Abhängigkeit von medialen Narrativen.

Gist.ai (hier vorgestellt) liefert die gleiche Antwort, bloss umständlicher formuliert:

Insgesamt ist es jedoch unwahrscheinlich, dass die Existenz von Smartphones und Internet die grundlegenden spirituellen und menschlichen Bedürfnisse, die zur Entstehung von Religionen beitragen, wesentlich verändert hätte, und das Christentum hätte sich möglicherweise sogar noch stärker entwickelt, wenn es die Vorteile der modernen Kommunikationstechnologie nutzen konnte.

Jesus’ E-Mail-Adresse, bitte!

Immerhin liefert uns diese KI eine interessante Schlusswendung. Sie beruft sich auf gesammelte Leserbriefe, die das «Time Magazine» vom 20. Oktober 2005 unter dem Titel Finding religion on the internet veröffentlichte. Leser Richard S. Russell aus Madison, Wisconsin, stellt die entscheidende Frage – bei der ich nicht umhinkomme, mich zu fragen, ob Pontius Pilatus die Kreuzigung Jesu angeordnet hätte, wenn sie live in der ganze bekannten Welt zu sehen gewesen wäre. Russel fragt:

Wenn Jesus wirklich online ist, wie lautet dann seine persönliche E-Mail-Adresse? Ich hätte da ein paar Dinge, die ich ernsthaft mit ihm besprechen muss.

👉 Wie es der Zufall will, gibt es gerade jetzt den Trend der «Bibel-Vlogger», die so tun, als hätte es schon zu Jesu Zeiten diese digitalen Medien gegeben. Was davon zu halten ist, analysiere ich im Beitrag KI sei Dank streamt Jesus jetzt live vom Kreuz.

Beitragsbild: Jesus in (oder vor) der Cloud (James Moore, Unsplash-Lizenz).

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