Der Medienkonsum birgt Risiken. Es kann passieren, dass ein Artikel, ein Film, Podcast oder auch ein Buch uns die Augen öffnet. Die Rezeption liefert uns eine Information, die uns eine neue und überraschende Sichtweise auf einen bestimmten Sachverhalt erlaubt.

Mir ist das neulich mit einem Podcast passiert. Es handelt sich um eine Folge aus Malcolm Gladwells Produktion Revisionist History (RSS, iTunes, Spotify), die ich vor neun Jahren ausführlich vorgestellt habe. Die Folge heisst Face Value und beschäftigt sich mit der neurokognitiven Störung Prosopagnosie.
Das genaue Gegenteil von Bill Clinton
In Englisch heisst sie auch face blindness. Der Begriff Gesichtsblindheit trifft es gut: Wir sehen Gesichter, aber wir sind schlecht darin, sie zu unterscheiden. Das Gegenstück zu den Gesichtsblinden sind die Super-Recognizer. Im Podcast wird Ex-US-Präsident Bill Clinton mit dieser Fähigkeit in Verbindung gebracht: Ein Mann erzählt, wie er mit seiner ganzen Schulklasse beim damaligen Gouverneur zu Besuch war und ihn Clinton 13 Jahre später auf den ersten Blick wiedererkannte.
Nun, ich bin leider kein Clinton, sondern eher ein Gladwell: Der Podcast-Host outet sich in der Sendung selbst als gesichtsblind. Auch mir kamen die geschilderten Situationen vertraut vor: Gesichtsblinde haben Schwierigkeiten, Leute wiederzuerkennen, wenn sie sie ausserhalb des gewohnten Kontexts treffen. Denken wir an den Arbeitskollegen aus einer anderen Abteilung, den wir mit Anzug kennen, der uns jedoch beim Stadion Schützenwiese im FCW-T-Shirt entgegenkommt.
Wer ist der Typ im gelben T-Shirt?
Gesichtsblinde haben auch Mühe damit, die Protagonisten in Filmen und Fernsehserien auseinanderzuhalten. Wir dürfen daher annehmen, dass Linus Torvalds, der Erfinder des Linux-Kernels, unter der Störung leidet. In seiner Biografie Just for Fun (Amazon Affiliate) schreibt er:
There is talk about Linus’s poor memory and his inability to remember faces. “If you’re watching a movie with him and the hero changes his shirt from red to yellow, Linus will ask, ‘Who is this guy?’” says Sara.
Sara ist seine Schwester. Ich habe das Buch vor zwanzig Jahren gelesen, aber die Szene ist mir noch in bester Erinnerung, weil es mir genauso geht. Ich habe sogar die Vermutung, dass ich in einer Übersprungreaktion diese Schwäche aufs Bücherlesen übertrage – ich kann selbst dort die Figuren, so wie ich sie mir vor meinem geistigen Auge ausmale, manchmal nicht unterscheiden.
Darum keinen Bock auf den Partykeller
In den Shownotes zum Podcast sind zwei Online-Tests zur Selbstdiagnose aufgeführt: Der erste fragt soziale Situationen ab und zieht daraus Rückschlüsse. Beim Cambridge Face Memory Test der University of London müssen wir uns Gesichter merken und sie wiedererkennen. Natürlich habe ich mich beiden unterzogen und zweimal das gleiche Resultat erhalten: mutmasslich Prosopagnosie in milder Form.
Wenn ich so frei sein darf, Linus und mich in die Nerd-Schublade zu stecken, dann stellt sich natürlich die Frage, ob das ein Merkmal ist, das unsereins besonders trifft. Beantworten lässt die, soweit ich mich durch die Forschung gekämpft habe, nicht. Es liegt aber auf der Hand, dass Prosopagnosie bei sozialen Begegnungen ein Hindernis ist, zu peinlichen Situationen führen kann und daher auch mitverantwortlich sein kann, wenn es jemandem in seinem eigenen Kämmerchen einfach wohler ist als im Partykeller.
Beitragsbild: Die Ironie ist, wenn man sich bei einer Sache selbst erkennt, in der es ums Nichterkennen geht (Vince Fleming, Unsplash-Lizenz).
Ich habe auch „mutmasslich Prosopagnosie in milder Form“. ☹️