In den 1980er-Jahren sei das Wort Nerd nicht gebräuchlich gewesen, war neulich in diesem Blog zu lesen.
Aber stimmt das auch? Ich habe es ohne Überprüfung behauptet, weil es mir einleuchtend erschien. Doch solche Aussagen bloss auf ein persönliches Gefühl abzustützen, entspricht nicht den hier geltenden Ansprüchen an Faktentreue – zumal man sich auch gehörig irren kann.
Darum führt nichts an einer Nachforderung vorbei, die gleichzeitig auch Rückschlüsse auf die Qualität meiner Intuitionen zulässt. Also: Das Wort «Nerd» taucht im elektronischen Archiv zwischen 1980 und 1990 33-mal in den Zeitungen aus der Deutschschweiz auf. Doch es handelt sich in aller Regel um OCR-Fehler, bei denen das Wort «Nord» oder «Herd» falsch erkannt wurde. Ein Treffer bezog sich ausserdem auf ein Inserat für eine «ebenerdige Garage», doch bei einer Fundstelle stand klar und deutlich «Nerd» zu lesen. Nämlich in der NZZ vom 7. Juli 1984:
Grundsätzliche Kritik an der Tätigkeit des Justitieombudsman vor dem Hintergrund seiner Kompetenzen und Möglichkeiten übt die Kandidatin der Jurisprudenz Mari Nerd von der Universität Lund.
Es geht um den Verwaltungsstaat in Schweden, und wir lernen die beneidenswerte Tatsache, dass es in Schweden Menschen gibt, die Nerd mit Nachnamen heissen. Ausserdem bedeutet es, dass ich fein raus bin.
Der erste Schweizer Computerfreak war ein Idealist
Auch wenn der Nerd damals noch nicht geboren war, existierte einer seiner nahen Verwandten bereits: der Computerfreak. Er tauchte in den 1980er-Jahren nicht häufig, aber dennoch regelmässig auf. Unter dem Vorbehalt, dass ich nur einen Teil der Schweizer Medien sichten konnte, hatte er seinen ersten Auftritt in der Schweiz am 25. Januar 1984, und zwar in einem Artikel der Zeitung Neue Zürcher Nachrichten über die Veranstaltungsreihe in der Roten Fabrik mit dem passenden Namen «Die Computer kommen!»:
Abschliessend äusserte sich ein sich selbst mehr oder weniger ironisch als alternativ bezeichnender Computerfreak zu den einträglichen Geschäften, die sich mit Hilfe von Computern erzielen lassen: Mit seiner selbstverwalteten Computer-Firma bietet er anderen selbstverwalteten Alternativ-Firmen rationelle, umweltfreundliche und arbeitssparende Buchhaltungs- und Rechnungsdienste per Computer an.
Bemerkenswert die Verbindung von «alternativem», d.h. idealistischem Gedankengut und dem digitalen Interesse. Für die USA ist sie längstens bekannt, da das Silicon Valley gleichermassen von Hippies und von Computerfreaks bevölkert war. Nun ist diese Zeitungsstelle ein Beleg dafür, dass die gleiche Kombination auch in der Schweiz existierte. Das werte ich so, dass in der Begeisterung für Computer eine universelle egalitäre Kraft steckt – selbst wenn die Tech-Tycoons von heute das in ihrem Machtrausch ins Gegenteil gekippt sind.
Computerfreaks haben immer auch eine blühende Fantasie
Ein weiterer Freak von damals gilt heute als Pionier: Es ist Hannes Keller, über dessen Symposium «Denken über die Zukunft» die «Neue Zürcher Nachrichten» am 21. September 1985 schrieb. Keller pflegte einen regen Briefwechsel mit Karl Popper.
Auch der Berner Informatiker Hansjürg Mey war vor Ort und wird mit folgender Überlegung zitiert:
Der Berner Professor Hansjürg Mey zeichnete die Entwicklung der Technik von der Materie über die Energie bis zur Information und ihre Parallele in der biologischen Evolution, in der Speichertechnik sowie beim Geldwesen, während die Gesetzgebung der Entwicklung noch nachhinke. Mey sieht in der Informatik den Schlussstein der Entwicklung; den neuesten Computern fehle lediglich die Fähigkeit, ihresgleichen zu gebären, also die «Arterhaltung», deren Funktion teilweise von der Simulation wahrgenommen werde.
Eine These, bei der ich innehalten muss. Ist sie Unsinn? Gar ein Beleg für das alte Vorurteil, dass Computerfreaks nur Sex im Kopf haben, aber zu verklemmt sind, um selbst welchen zu bekommen.
Nein, Quatsch. So fantastisch diese Idee auch heute noch klingt, so wenig lässt sie sich von der Hand weisen: Wenn wir heute sehen, wie eine KI Computercode entwickelt, dann lässt sich darin eine Art der maschinellen Fortpflanzung sehen.
Mey war nicht der erste oder einzige Utopist mit diesem Gedanken. Nein, die Self-replicating machine ist ein alter Menschheitsgedanke, an dem derzeit vor allem die Nasa herumtüftelt.

Den eigenen Wunschzettel in die Zeitung gebracht
Die Karriere des Computerfreaks nahm ab da ihren Lauf. Am 8. Dezember 1993 war sie schon so weit fortgeschritten, dass sich «Der Bund» zur Frage genötigt sah, was man einem Computerfreak unter den Weihnachtsbaum legt:
Auch Computerfreaks sollen gesund leben. Ist der Gutschein fürs Fitnesscenter etwas zu teuer, dann tut es womöglich ein «Wrist-Pad» für 10 bis 20 Franken. Das ist eine längliche Schaumstoffmatte, die vor der Tastatur platziert wird und als Handballenauflage dient.
Weitere Vorschläge waren: Eine Designer-Mausmatte, ein Joystick, eine Soundkarte, CD-ROM-Laufwerke, eine Shareware-CD, Computerspiele, Bildschirmschoner oder – und das war damals eine wirklich gute Idee! – mehr Arbeitsspeicher.
Und hier die Schlusspointe: Der Autor des Artikels ist David Rosenthal. Er war einer meiner Berufskollegen, arbeitet heute als Jurist und ist ohne Zweifel selbst ein solcher Computerfreak. Ich wage die Behauptung, dass dieser Artikel damals im «Bund» sein eigener Wunschzettel für Weihnachten 1993 war.
Beitragsbild: Was ihn angeht, ist der Titel eine Unterstellung (Cottonbro Studio, Pexels-Lizenz).