Das ewige Déjà-vu: Wir kennen es aus der Mode, wo Schlaghosen, Neonfarben, Plateau-Schuhe und Hüftjeans alle paar Jahre wieder auftauchen. Oder die Bartmode! Wenn ich in den Fotoalben blättere, dann trägt auf den Fotos aus den 1970er-Jahren die Hälfte der Männer dort einen Bart, mit dem er heute in Zürich perfekt ins Bild passen würde.
Auch in der Politik bewegen wir uns in Kreisen: Wir erleben eine Lagerbildung, verhärtete Fronten wie zu Zeiten der Hippie-Bärte und einen Neo-Imperialismus, von dem mir Angst und Bange wird. Rezykliert wird schliesslich auch in Kunst und Kultur: In den neuen Filmen, Serien und Büchern werden ständig die gleichen alten Geschichten erzählt.
Im Kino mit all den Sequels ist das manchmal ermüdend. Aber abgesehen davon dürfen wir konstatieren, dass wir uns als Medienkonsumenten dennoch nicht langweilen müssen, weil die Dinge nie auf die exakt gleiche Weise zurückkehren:
Kreise …
Trump ist kein Huey Long und kein Benito Mussolini. Moderne Erzählungen können trotzdem packend sein, selbst wenn das Publikum genau weiss, wie eine Heldenreise abzulaufen hat, was zu einer Neuauflage des epischen Kampfs Gut gegen Böse gehört und was eine verbotene Liebe so schmerzhaft macht. Die Rahmenbedingungen wandeln sich, es gibt neue Stilmittel und Erzählformen. Und wenn ich (nicht zum letzten Mal in diesem Blogpost) auf die bärtigen Männer vom Anfang zurückkommen darf: Auch bei denen beobachte ich einen spannenden Unterschied.
In meiner Kindheit war mein soziales Umfeld ein anderes. Ich entspringe der Arbeiter- und Bauernklasse und der Unterschicht. Heute gehöre ich zur Mittelschicht und bewege mich in Kreisen, in denen sich die meisten meiner Familienmitglieder höchst unwohl gefühlt hätten. Und weil man seine Herkunft niemals komplett abschüttelt, geht es mir heute oft so, dass auch ich mich nicht so richtig zugehörig fühle – weder da, wo ich heute gelandet bin, noch da, wo ich herkomme.
Auf die Bärte bezogen heisst das, dass die heute keine Nähe zur Arbeiterklasse, den Hippies oder einer Gegenkultur signalisieren, sondern dem Klischee entsprechend eher von Hipstern, Kreativen, Start-up-Gründern und Akademikern getragen werden. Ob ironisches Understatement ausdrücken oder beweisen soll, dass sich die Träger trotz ihres konformistischen Lebensstils eine rebellische Ader bewahrt haben, ist für mich ein ungeklärtes Rätsel. Ich werte es jedenfalls positiv, dass die Bandbreite von dem, was man modisch tun oder lassen kann, grösser geworden ist.
Schlangenlinien …
Also: Wenn alles wiederkommt – heisst das nicht zwingend, dass es nichts wirklich Neues mehr gibt? Kann man heute noch einen Roman schreiben, ohne erzählerische Schlangenlinien zu fahren, damit man sich nicht als Plagiator fühlt? Vielleicht werde ich das ausprobieren müssen, indem ich einen Roman schreibe.
Die nächste Eskalationsstufe dieser Frage lautet natürlich, ob sich dieser Kreislauf der Ereignisse überhaupt durchbrechen lässt. Anhand der Bärte lässt sich diese Frage anschaulich diskutieren. Wir kennen Ziegen- und Knebelbart, Van Dyke und Vollbart, Balbo, Ankerbart, Chevron, Dreitagebart, Hufeisen, Backenbart, Gunslinger, Kinnbart, Soul Patch, Sparrow, Zappa, Wallross, Schifferkrause und Chin Puff, Ducktail und French Fork, Fu Manchu und Henriquatre – plus sicherlich noch einige Dutzend mehr. Ach, der Circle Beard fällt mir noch ein.
Doch irgendwann ist Schluss. Hans Langseth hat sich zwar einen Bart von mehreren Metern wachsen lassen und den um seinen Körper geschlungen. Es liegt jedoch auf der Hand, dass diese Mode nicht zum Massenphänomen taugt. Wir können daher die bekannten Varianten mit allerlei Kosmetika wie Gels oder Bartfarbe modifizieren, aber dabei entsteht nichts noch nie Dagewesenes – Moden müssen sich wiederholen. Das wird sich erst mit einem technologischen Durchbruch ändern: Wenn jemand einen flechtenden Nanoroboter erfindet, könnte er uns Männern ein individuelles, haariges Gesichtskunstwerk verpassen.
Invasionen …
Der menschliche Erfahrungsraum hat seine Grenzen. Es braucht eine wesentliche Veränderung, um ihn auszuweiten. Das kann eine technische Innovation wie der Nanoroboter sein, aber natürlich auch ein gesellschaftlicher Fort- oder Rückschritt, eine Transformation der Lebensumstände oder wenn plötzlich Aliens auf der Erde landen.
Das erklärt auch, warum in den Filmen, Serien und Büchern ständig Aliens auf der Erde landen. Kunst zeichnet sich dadurch aus, dass die Ausweitung des menschlichen Erfahrungsraums in der Macht des Autors liegt. Eine Auswirkung dieser Tatsache ist, dass ständig neue Genres erfunden werden: 1999 bekamen wir es in Blair Witch Project mit Found Footage zu tun. Das Metaversum bringt Geschichten wie Ready Player One hervor, die parallel in einer realen und einer virtuellen Welt ablaufen. Eine Spielart sind Social Media Thriller wie Unfriended oder The Ink Black Heart, in denen die ganze Handlung oder ein Teil davon online vermittelt abläuft. Das klappt auch via Podcasts, wie Listen for the Lie beweist. Etwas weniger kreativ, aber ebenso legitim ist es, bestehende Genres zu neuen zu fusionieren: Cli-fi (Climate fiction) oder Romantasy wären Beispiele dafür – auch wenn es allen Variationen zum Trotz um Grusel, Thrill, Liebe, Verrat und die allzu bekannten menschlichen Gefühle und Daseinszustände geht.
Treten an Ort und Stelle …
Die Erkenntnis daraus lautet, dass die Erfahrung, etwas Neues zu erleben, auch entstehen kann, wenn Altbekanntes auf überraschende und kreative Weise angerichtet wird. Die Versatzstücke kennt jeder, doch die Anordnung ist originell und frisch.
Damit sind wir endlich beim Thema dieses Blogposts angelangt. Wie man sieht, ist mir (wieder einmal) die Einleitung völlig aus dem Ruder gelaufen. Eigentlich wollte ich mir die Frage in Bezug auf die Software stellen: Bei welcher App hatte ich zum letzten Mal das Gefühl, etwas völlig Neuem begegnet zu sein?
Leider fällt die Antwort so kurz aus, dass ich ganz froh um den epischen Prolog bin: Es waren Apps, bei denen die Innovation nicht beim Was, sondern beim Wie zu suchen ist: die Markdown-Apps etwa, oder iA Presenter. Ich habe auch ChatGPT gefragt, der mich aber nicht davon überzeugen konnte¹, dass meine Langeweile in den App-Stores nicht bloss eingebildet ist.
Irgendwie scheint die Kreativität bei den Apps auch im Bezug aufs Wie in der letzten Zeit erlahmt zu sein. Ich muss mich als Blogger damit abfinden, ständig über Apps, Websites und KI-Anwendungen zu schreiben, über die ich in ähnlicher Form schon früher geschrieben habe. Aber das ist wirklich Jammern auf hohem Niveau. Ich darf mich glücklich schätzen, dank Smartphone, Wearables und generativer KI in letzter Zeit einigen Urknall-Momenten beigewohnt zu haben, die meinen Blogger-Horizont jedes Mal beträchtlich ausgeweitet haben.
Fussnoten
1) ChatGPT hat folgende Apps als besonders innovativ ins Feld geführt: den (hier besprochenen) Arc Browser, Mural, Kinopio, Ticktick und Apple Music Classical. ↩
Beitragsbild: Warten, bis der Nanoroboter kommt! (IsaaK Alexandre KaRslian, Unsplash-Lizenz).