Wie das «Nidwaldner Tagblatt» 1987 eine grobe Unterlassungssünde beging

Bill Gates gehört zu den bekann­testen Figuren der Welt­öf­fent­lich­keit mit pop­kul­tu­rel­ler Be­deu­tung. Doch in der Schweiz hat es ver­blüf­fend lang ge­dauert, bis man seinen Namen über­haupt er­wähens­wert fand.

Steve Jobs erster Auftritt in der Schweizer Medienlandschaft war nicht sonderlich spektakulär. Aber wie steht es um Bill Gates?

Ein Studienabbrecher wie Jobs, begann er seine Karriere, indem er 1975 mit Paul Allen Microsoft gründete. Ab wann hätten die Schweizer Medien auf diesen Mann aufmerksam werden müssen, der von manchen (meines Erachtens zu Unrecht) als Programmiergenie gesehen wird, seine eigentlichen Talente aber im geschäftlichen Bereich entfalten konnte. Er hat die Potenziale erkannt und sie – das ist das entscheidende – strategisch geschickt ausgenutzt. Ich attestiere ihm ausserdem Hartnäckigkeit und ein Talent zum Schwadronieren. (Ich bin noch unschlüssig, ob ich mir seine Biografie Source Code antun soll – werde aber vermutlich nicht darum herumkommen.)

Der entscheidende erste Unternehmenserfolg gelang Gates 1981: Er kaufte dem Entwickler Tim Paterson für 50’000 US-Dollar das Betriebssystem 86-DOS ab, verfeinerte es ein bisschen zu MS-DOS und lizenzierte es als PC DOS an IBM. Zusammen mit dem legendären IBM-PC eroberte dieses Gespann die Geschäftswelt und wurde zur dominanten Plattform für das klassische Computing.

Damit ist die Ausgangslage klar: Es gibt eine hervorragende Note für die Schweizer Presse, falls Gates vor 1981 vorgestellt wurde. Sollte es deutlich später gewesen sein, müssen wir ein Versäumnis anprangern. Wie üblich gilt, dass ich für meine Nachforschungen nur auf öffentliche elektronische Archive zurückgreife.

Zu Besuch in Hergiswil

Tja, und was soll ich sagen? Bei E-Newspaperarchives finden sich für die Achtzigerjahre gerade mal sechs Treffer zu Gates. Der erste Artikel erschien am 4. Februar 1987 im «Nidwaldner Tagblatt» und verkündete, dass Bill Gates bei Also-Chef Bruno Gabriel zu Besuch gewesen war:

Zwar sind die Umsatzzahlen unterschiedlich, doch die Wachstumsverhältnisse dürften in etwa übereinstimmen. Bill Gates (32), Gründer und Chef der heute weltgrössten Softwarefirma – der Microsoft –, besuchte zu Beginn dieser Woche die Also-Gruppe in Hergiswil. Den Schweizer Spezialisten für Mikrocomputer Also, der seit der Gründung 1984 durch Bruno Gabriel (41) ebenfalls eine ungewöhnliche Erfolgsstory und ein mehr als nur rasantes Wachstum vorweisen kann.

Autsch!

1987 war Microsoft bereits führend im PC-Softwaremarkt. MS-DOS dominierte die PC-Landschaft und wie ich in einer SDA-Meldung vom 14. Oktober 1986 entnehme, war Gates der mit dreissig und 315 Millionen US-Dollar auf dem Sparbuch als eines der jüngsten Mitglieder im Club der 400 reichsten Amerikaner aufgenommen worden. Ein guter Monat nach dem Besuch in Hergiswil, am 21. März 1987, war Gates der erste Computer-Milliardär. Allein dieser raketenhafte Aufstieg hätte sich deutlicher in den Medien widerspiegeln müssen.

Der etwas zu kurz geratene «Wunderknabe»

Aber das Verdikt ist fällt noch vernichtender aus: Wir kommen nicht um die Feststellung herum, dass sich das «Nidwaldner Tagblatt» die Chance auf einen historischen Primeur hat entgehen lassen: Man hätte mit diesem, Zitat im Artikel, «Wunderknaben» ein Interview führen können, ohne in die USA fliegen zu müssen. Stattdessen ist man aus lauter Lokalpatriotismus auf die Idee verfallen, Gates mit einem Schweizer Unternehmer auf die gleiche Stufe zu stellen – oder eher noch als Nachwuchstalent neben dem Hergiswiler Tech-Tycoon Bruno Gabriel.

Der Vergleich war schon damals an den Haaren herbeigezogen, was den globalen Einfluss angeht. Wenn wir Also und Microsoft nach dem aktuellen Stand der Dinge gegenüberstellen, dann erfahren wir, dass Also 2021 immerhin 12,8 Milliarden Franken Umsatz erzielte, Microsoft allerdings 168 Milliarden US-Dollar. Und die Biografie welches Gründers sich besser verkauft, darüber müssen wir nicht lange spekulieren.

Stattdessen kommt Gates in dem Artikel naiv rüber:

Bill Gates, der erstmals in der Schweiz weilte, zeigte sich über die Wachstumsaussichten des Computermarktes in Europa überrascht: «Ich wusste gar nicht, wie stark sich hier der PC-Markt entwickelt.»

Und das war es auch fast schon, was gemäss den elektronischen Archiven die Schweizer Presse in den gesamten 1980er-Jahren über Bill Gates zu schreiben hatte¹.

Das lässt sich auf unterschiedliche Weise deuten:

Eine wohlwollende Interpretation wäre, dass die Schweizer Presse sich damals lieber mit den Unternehmen und Produkten als mit den Köpfen befasste. Das lasse ich zu einem gewissen Grad gelten: Der heutige Drang, Themen wann immer möglich zu personifizieren, geht mir oft gehörig auf den Wecker. Doch Bill Gates hatte schon in den 1980er-Jahren alles, was ein Interview oder ein ausführliches Porträt gerechtfertigt hätte.

Ein Totalversagen

Das führt uns zur zweiten möglichen und deutlich weniger gnädigen Deutung: Die Journalisten haben die aufstrebende Computerbranche nicht ernst genommen. Das Wort Nerd war damals nicht gebräuchlich (den Beleg zu dieser Behauptung findet ihr hier), aber wenn das «Nidwaldner Tagblatt» von «Wunderknabe» schreibt, enthält dieses Wort genau gleiche Mischung aus Bewunderung, Unverständnis und Missachtung. Subtext: Dieser Gates ist reich und erfolgreich, aber im Vergleich zu einem richtigen Geschäftsmann wie Also-Chef Bruno Gabriel grün hinter den Ohren. Das Foto ist von einer Bildlegende begleitet, die das sogar explizit formuliert: Sie nimmt nämlich Bezug auf den Unterschied bei der Körpergrösse und auf die Tatsache, dass Gabriel Gates um einen Kopf überragt.

Diese These wurde übrigens kürzlich eindrücklich bestätigt; von Dominik Landwehr am Vintage Computer Festival in Zürich während der Diskussionsrunde unter Computerjournalisten; nachzusehen hier.

Fazit: ein Totalversagen. Dass es keinen Nagel² setzt, ist «FAN – L’express» zu verdanken. Diese Zeitung hat am 15. Januar 1988 einen Blick auf das Personal der Computerrevolution geworfen und im Artikel Pionniers légendaires anerkannt, dass Leute am Werk sind, die Besonderes leisten.

Legendäre Pioniere aus der seltsamen Welt der Computer. PS: Es gebe eine Sache zu verstehen, erklärt der Artikel – gefolgt von zwei Aufzählungszeichen. Ist das keinem aufgefallen?

Allen voran wird Steve Wozniak genannt, gefolgt von Steve Jobs, der hier noch Steven Jobs heisst. Und als dritter im Bund taucht Ken Olsen als Gründer der Computerfirma Digital Equipment Corporation (DEC) auf. Die Frage, ob dieser Podestplatz aus heutiger Sicht gerechtfertigt ist, gäbe einen separaten Blogpost her. Ironisch jedenfalls, dass Olsen inzwischen fast nur noch für seine Aussage von 1977 berühmt ist, es gebe keinen Grund, warum jemand einen Computer zu Hause haben sollte. Natürlich lustig; auch wenn man unter den Tisch fallen lassen muss, dass er den Heimserver und nicht den Heimcomputer meinte.

Gates wird in diesem Artikel genannt, darf aber nicht den Status eines Pioniers für sich in Anspruch nehmen. Falls ich diesen seltsamen Satz richtig verstehe, wird er als Steigbügelhalter für Jobs dargestellt:

Jobs, einer der ersten, der von der grundlegenden Bedeutung der Software überzeugt war, hatte das «Glück», das Microsoft von Bill Gates und Paul Allen zu adaptieren: eine Annäherung, eine Synchronisierung der Alltagssprache und des Computers, die Architekten eines so schwindelerregenden Erfolgs, dass er die ohnehin schon fabelhaften Massstäbe von Silicon Valley bei weitem übertraf.

Ob die Leserschaft damals kapiert hat, was man ihr damit hatte sagen wollen?

Erst in den 1990er-Jahren von Interesse

Was Bill Gates angeht, hat die Schweizer Öffentlichkeit im Lauf der 1990er-Jahre von ihm Notiz genommen. 1990 gab es drei Artikel, 1991 17, 1992 14, 1993 vierzig, 1994 56 und 1996 dann 111. Wenn ich nichts übersehen habe, hat es der Microsoft-Gründer am 21. November 1990 zum ersten Mal in eine Schlagzeile geschafft: Die Visionen von Microsoft-Gründer Bill Gates: Der PC liest Handschrift.

Es sei das Ziel, Informationen transparent über alle Grenzen von Computern und Programmen verwenden zu können, erklärte Gates. Nach seinen Worten muss die Benutzung eines Personalcomputers so einfach werden wie diejenige eines Autos oder eines Fernsehgerätes. (…) Bill Gates beschrieb den Anwesenden die Idee eines 25 Zentimeter dicken Notebook-Rechners einem druckempfindlichen Bildschirm und einem Stift, mit dem man auf dem Bildschirm schreiben kann.

Und was sehen wir heute? Statt einfacher PCs haben wir komplizierte Fernseher bekommen. Und wegen der Fixierung auf die Handschrift hat Microsoft das Handy-Geschäft vermasselt.

Fussnoten

1) Folgende Artikel sind in «E-Newspaperarchives» noch verzeichnet:

  • Gates erste Milliarde war dem «Bund» am 23. März 1987 eine Kurzmeldung wert.
  • Am 29. September 1987 erwähnte wiederum der «Bund» Gates nebenbei in einem Artikel zum Desktop Publishing. Im «Journal du Jura» gab es am 13. Oktober 1989 einen Hinweis auf eine Fernsehreportage auf France 1 unter dem schönen Titel «Die Neureichen der Neuen Welt» («Les nouveaux riches du Nouveau-Monde»), in der auch Bill Gates erwähnt wird.
  • Und am 21. November 1989 nannte wiederum «Der Bund» Gates’ Namen in einem Artikel, in dem es um (aus heutiger Sicht irrelevante) technische Details bei der PC-Architektur ging.

2) Schweizer Schulslang für die Note 1, die in Deutschland der 6 entspricht.

2 Kommentare zu «Wie das «Nidwaldner Tagblatt» 1987 eine grobe Unterlassungssünde beging»

  1. Der Artikel wurde im Wirtschaftsteil veröffentlicht, der Autor Markus Köchli war Wirtschaftsjournalist. Da kann ich verstehen, dass man den Fokus auf den (wirklich erstaunlichen) Erfolg der Also-Gruppe als regionales Unternehmen gelegt hat. Damals gab es erst Windows 1 (was kaum jemand verwendet hat) und kein Microsoft Office. MS-DOS war auf den Rechnern vorinstalliert und für die Anwender nicht viel mehr als der blinkende Cursor. Wichtiger war die Anwendungssoftware, und die kam noch nicht von Microsoft.

    Aber es stimmt schon, ein Wirtschaftsjournalist hätte alleine aufgrund des Vermögens von Bill Gates mehr Interesse an ihm zeigen können.

    1. Zugegeben. Der Fokus aufs Lokale lässt sich bei einer Lokalzeitung immer rechtfertigen. Aber interessant, dass sonst kein Medium vom Besuch Wind bekommen hat; die NZZ beispielsweise. Vielleicht war der die Anreise zu beschwerlich. 😉

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