Was für ein trauriges Buch! Und was für ein fulminantes Ende einer grossartigen Serie!
Rath ist das zehnte Buch in der Gereon Rath-Reihe von Volker Kutscher. Wikipedia zitiert den Verlag, wonach es auch die letzte Folge dieser Reihe ist, von der ich den ersten Teil ausführlich, die Teile danach summarisch und die Verfilmung als «Babylon Berlin» kritisch besprochen habe.
Natürlich wussten wir immer, dass dieses Abenteuer nicht glücklich ausgehen kann. Wir – im Gegensatz zu all den Figuren im Buch mit ihren Hoffnungen, Träumen, Ambitionen, Geheimnissen und menschlichen Schwächen – sehen zwar, wie die Nationalsozialisten in der Stadt, im ganzen Land und in ihrem Leben immer mehr Raum einnehmen. Doch sie wissen nicht, welche Ausmasse das annehmen wird. Bis zu diesem zehnten Buch: Es endet kurz nach der Reichspogromnacht vom 9. und 10. November 1938. Diese staatlich orchestrierte Hetze auf die Juden in Deutschland zerfetzt wesentliche Handlungsstränge, die teils über die ganze Serie aufgebaut wurden, brutal. Zu denen zählt – Achtung, Spoiler! – der Plan von Marion Goldstein, den Tod ihres Gatten zu rächen. Goldstein wird, genauso wie der gedungene Mörder, vom entfesselten Mob aufgegriffen, verprügelt und mutmasslich ihrem Ende zugeführt.
Bloss ein Verbrechen unter so vielen

Die Gewalt der SA und der anderen Nazi-Organisationen wirkt erzählerisch auch auf das Buch und seine Geschichte aus. Kutscher beginnt auch dieses zehnte Buch in Krimi-Manier – schliesslich hat diese Buchreihe als Police procedural begonnen: Zwei Mitglieder der Hitlerjugend werden kurz nacheinander ermordet und Hauptverdächtiger ist einer der wichtigen Nebenfiguren, Friedrich «Fritze» Thormann. Und den Krimi-Anspruch löst Kutscher ein: Der Fall klärt sich auf und der Täter wird zur Rechenschaft gezogen.
Doch diese für jeden Krimi entscheidende Wendung verkommt komplett zur Nebensache: Denn was hat ein einzelner Mord noch für eine Bedeutung, wenn in Hitlers Deutschland Unrecht in einem nie dagewesenen Massstab stattfindet? Wer soll Gerechtigkeit üben, wenn der Rechtsstaat so ausgehöhlt wurde, dass er leise in sich zusammenbricht?
Ein Symbol für diesen Zerfall ist Ernst Gennat. Der Kriminalrat, der früher in der Serie (und auch im richtigen Leben) sich nachdrücklich und unbestechlich den vielfältigen Formen der Kriminalität entgegengestellte und Garant für die Gerechtigkeit war, ist nur noch ein Schatten seiner selbst: Alt, krank und ins Private zurückgezogen. Es passt daher, dass der Mörder durch Selbstjustiz sein Ende findet; erschlagen vom Vater eines der Opfer.
Und der Held der Reihe, Gereon Rath?
Er ist untergetaucht, gilt als tot und hat kaum etwas anderes zu tun, als auf den Tod seines Vaters zu warten. Auch er hat in dieser Welt nichts mehr zu berichten. Das einzige, was ihm bleibt, ist eine Bestrafungsaktion für jenen Mann, der seine Noch-Ehefrau folterte und demütigte. Doch selbst das kriegt er nicht richtig hin. Rath befleckt seine Hände zum zweiten Mal in seiner Karriere mit Blut. Auch das ein Ereignis, das in einer normalen Welt eine Tragödie für sich wäre, in dieser Welt der Barbarei aber kaum mehr eine Rolle spielt.
Jeder gefangen in seinem Schmerz
Beklemmend ist die Einsamkeit, die alle Figuren in diesem Buch fühlen. Die früheren Bände der Serie sprühen von den vielseitigen Facetten der menschlichen Interaktion, die sich zwischen den Hauptfiguren abspielen – längst nicht immer liebevoll, sondern oft ruppig, übergriffig, rau und egoistisch. Doch im Jahr 1938 ist jeder in seiner einsamen Welt gefangen; gleichgültig, ob er Mitläufer, stolzer Träger seiner sauber gebügelten SS-Uniform ist (Sebastian Tornow) oder, wie Gereon Rath, nur noch auf das Schiff wartend, das ihn nach Amerika bringt. Auch Friedrich «Fritze» Thormann, durch einen brutalen Nazi-Arzt seiner Freundin Hannah Singer beraubt, bleibt am Ende des Buchs nur die Option der Rache. Die ihm aber keine Befriedigung verschafft, sondern nur seine Einsamkeit absolutiert.
Gibt es einen Funken Hoffnung? Ja.
Charlotte Rath. In diesem Buch ereignet sich eine stille Wachablösung. Der Name Rath auf dem Titel des Buchs bezieht sich auf Charly, nicht auf Gereon. Sie findet in dieser unmenschlichen Welt eine Aufgabe, die es ihr erlaubt, sich ihre Menschlichkeit zu bewahren. Sie – Achtung, wieder ein Spoiler! – wird sich um das Kind von Hannah und Fritze kümmern, das mit dem generischen jüdischen Namen Israel in einem Waisenheim fristet.
Ein leiser Abschied für immer
Ja, es war von Anfang an klar, dass uns am Ende dieses Abenteuers Trauer und Schmerz erwarten. Trotzdem hatte ich nicht geahnt, wie sehr mich «Rath» mitnehmen würde. Klar hatte Volker Kutscher keine andere Wahl, als uns mit bedrückenden Szenen zu konfrontieren. Aber dass sie so bedrückend werden würden, wie wenn die Schergen der SS den dementen jüdischen Ariel Flegenheimer aus dem Fenster des dritten Stocks werfen, tut trotzdem weh.
Denn die Kunst Kutschers ist es, die gesellschaftlichen Veränderungen subtil über so viele Seiten zu erzählen, dass für uns Leserinnen und Leser fassbar wird, wie auch wir als Frosch im Kochtopf erst viel zu spät kapiert hätten, dass nichts mehr ist wie es sein soll. Kein Kipppunkt – sondern ein schleichender Zivilisationszerfall. Und wenn wir dann wirklich etwas «Comic Relief» hätten vertragen können, kommt die leise Abschiedsszene, in der sich Gereon Charly endgültig trennen. Gereon hatte es bis zuletzt nicht kapiert – für das letzte Treffen mit seiner Frau brauchte er einen ordentlichen Schubser seines Freundes Paul.
Eine Buchreihe, genau zum richtigen Zeitpunkt. Wer nicht kapiert, dass Menschlichkeit unauffällig und Schrittchen für Schrittchen erodiert, der könnte auch in der Gegenwart früher als später böse überrascht werden. Als Vorsorge empfehle ich, sämtliche Bücher nochmals in einem Rutsch durchzulesen. Die von David Nathan grossartig gelesenen Hörbuchfassung ist natürlich auch okay.
Beitragsbild: Beides Tatwerkzeuge im neuen Buch (Alexander Andrews, Unsplash-Lizenz).