Die heutige Folge in der Rubrik der Tech-Premiere handelt von einer Metamorphose. Es geht um einen Begriff, der innerhalb von zwanzig Jahren keinen totalen, aber einen beträchtlichen Bedeutungswandel vollzog. Man könnte von einem sprachlichen Update sprechen.
Das ist nicht ungewöhnlich, aber trotzdem spannend: Es liegt auf der Hand, dass neue Maschinen, Erfindungen und fortschrittliche Ideen auf vielen Ebenen Veränderungen auslösen. Eine Innovation beeinflusst den Bereich, in dem sie eingesetzt wird. Nachgelagert bewirkt sie auch wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Effekte. Und fast immer wandelt sich auch der Sprachgebrauch. Zum Beispiel, indem Begriffe wie «Festplatte» aus dem Computerjargon langsam zum Allgemeingut werden.
Anschaulich zeigt sich das bei Multimedia: Das Wort besagt im Kern einfach, dass mehrere Medien zum Einsatz kommen. Ursprünglich waren diese Medien analog. In der Zeit war Multimedia in Kunstausstellungen, dem Theater und an der Oper anzutreffen. Mit der Digitalisierung verlagerte sich das Multimediale aus dem öffentlichen Bereich ins Wohnzimmer. Dort führten sich die Leute dann mittels Disketten, Cartridges, DVDs und später dem Internet Fotos, Animationen, Video und Audio in Kombination mit Text zu Gemüte.
Eine Grenzüberschreitung
Der digitale Aspekt dürfte dem Publikum weitgehend geläufig sein. Darum soll uns hier interessieren, wie Multimedia in Analog aussah. Einen eigentlichen Höhenflug legte das Wort am Anfang der 1990er-Jahre hin. Zum ersten Mal druckte die NZZ es in einem Artikel vom 26. März 1970, der fragt, ob Feuerlöscher Kunst seien:
Eine Beschränkung auf Malerei, Plastik und Grafik liesse heute wesentliche Ausdrucksmittel der bildenden Künstler ausser acht. Objekte, Räume (Environments), Aktionen sind hinzugekommen. In anderen künstlerischen Bereichen sind ähnliche Tendenzen zum Überschreiten der bisher gültigen Grenzen zur Verbindung verschiedener Medien (multimedia) festzustellen.
Wir lehnen uns kaum zu weit aus dem Fenster, wenn wir uns diese Disziplin als experimentelle Kunst vorstellen, die nicht ganz so unterhaltsam war wie ein multimediales Videospiel heute:
Hier [im Erdgeschoss der Kölner Kunsthallen] gibt es […] einen transparenten Raum des in Köln lebenden Ansgar Nierhoff, der sein Werk mit Aluminiumkissen, Licht- und Tonprogrammen bestückt. Adolf Luther bastelte einen «focussierenden Raum» zusammen, ein Dunkelkabinett mit Scheinwerfern und Hohlspiegeln.
Oper, Ballett, Kunsthalle: Multimedia ist überall
Anscheinend getraute sich in der Zeit kaum ein Künstler, der etwas auf sich hielt, etwas ohne Multimedia zu machen. Bloss drei Wochen später, am 21. Mai 1970, widmete sich die NZZ ausführlich der Ballettoper von André Campra in Schwetzingen. Leider gelingt es auch diesem Text nicht, eine plastische Vorstellung davon zu wecken, welche konkreten Vorgänge auf der Bühne das Prädikat multimedial verdienen:
Die Vorstellung der Musikbühne als eines Ortes, wo sich alles von einem einstudierten Stück Oper über halb improvisierte musikalische Einlagen bis zu frivolen Tänzen «ereignen» kann, ist einem Multimedia-«Happening» neueren Datums nicht in den stilistischen Fixierungen, aber in der grundsätzlichen Unbestimmtheit des zu Geschehenden verwandt, und jene Offenheit der musikalischen Form, die verlangt, dass jede Einstudierung neue Teile absorbiere und alte abstosse, wurde tatsächlich von den französischen Bühnenpraktikern des Barocks verwirklicht.
Uff, das ist tatsächlich ein einziger Satz über siebzig Wörtern. Die Regel, dass ein verständlicher Satz nicht mehr als zehn bis zwanzig Wörter haben sollte, war der NZZ 1970 anscheinend nicht bekannt. Mein Eindruck ist, dass der Autor den Begriff höchst abstrakt benutzt – er scheint die Ereignisse zu betreffen, die seinen Erwartungen als eingefleischter Operngänger widersprechen. Hat der typische NZZ-Leser, die typische Operngängerin diesen Text durchdrungen? Ich habe meine Zweifel und hätte an der Blattkritik vehement mehr Lesernähe eingefordert.
Bei Shakespeare hört der multimediale Spass dann auf
Nach einigen weiteren Texten dieser Machart hatte ich die Hoffnung schon aufgegeben, dass irgendeiner dieser 1970er-Jahre-Journalisten sich die Mühe macht, mir ernsthaft zu erklären, was Sache ist. Dann, am 1. Juni 1970, war es so weit. Wiederum in der NZZ erschien der Artikel Shakespeares «Sturm» als Multimedia-Spiel:
Eines der neuen Zauberworte im Bereich der Künste heisst: Multimedia. Der Kanon der einzelnen Gattungen von der Musik bis zur bildenden Kunst ist zerbrochen. Und nun kann man alles versuchen, quer durch die Kategorien, quer durch die Materialien, ja sogar durch die Alltagsutensilien. Man kann die Elemente tüchtig mischen vom Geräusch einer Pressluftbombe bis zum abstrakt-kinetischen Farbenspiel und – bis zum Shakespeare-Text.
Würden wir heute nicht einfach von einer unorthodoxen Inszenierung sprechen? Oder vielleicht auch von Aktionskunst – es sollen anscheinend auch einfach alle Sinne gereizt und überfordert werden:
Dann wird es «multi». Auf der Bühne öffnen die Arbeiter die Pressluftbomben, die Inselfahrer werden von den künstlichen Winden umweht, und damit es noch ein bisschen wirkungsvoller pustet, jagen Kunststofffetzen, die vom Schnürboden herunterregnen, wild über die Szene. Handlung bedeutet nichts, sagen sich Schönbach und Kieselbach. Situation dagegen alles.
«Man ist verstimmt»
Also einfach ein Happening bzw. ein postdramatisches Theater? Multimedia ist auf alle Fälle etwas, das einem recht schnell auf den Wecker gehen kann, obwohl – oder vielleicht auch gerade weil – man für die NZZ schreibt:
Die multimedialen Exempel, so amüsant und unterhaltsam sich in ihnen Lichtspiele, Sinnbildszenen, Improvisationsgags, Musikantenparodien und attraktive Geräuschmusik auch mischen, sie greifen das Shakespeare-Modell doch nicht organisch, nicht suggestiv, nicht plausibel auf. Man rätselt, und man ist verstimmt.
Eines ist allerdings erfreulich: 22 Jahre später ist sich die NZZ nicht mehr zu schade, die Sache zu erklären. Am 10. Juni 1992 erklärte sie: Multimedia – was ist das eigentlich?
Um es gleich vorwegzunehmen: Multimedia ist nichts anderes als eine Zusammenführung der Fähigkeiten der Computertechnik mit denjenigen der Fernseh- und Videotechnik.
So einfach kann es sein!
Beitragsbild: Und hinter dem Vorhang lauert es – das Multimedia (Camille Roux, Unsplash-Lizenz).