«Snow Crash» in Neu-Berlin

«Lieferdienst» von Tom Hil­len­brand ist eine tem­po­reiche Science-Fic­tion-Ge­schich­te, die neuen, fu­tu­ris­ti­schen und den­noch leicht he­run­ter­ge­kom­menem Berlin spielt und frap­pant an ein ful­mi­nan­tes Cyber­punk-Meister­werk aus den 1990er-Jahren erin­nert.

Ein fulminanter Anfang! Die Auslegeordnung einer Welt und einer Zukunft, über die ich sehr gern mehr erfahren würde. Und am Ende viele offene Fragen. Die drängendste: Warum ist dieses Buch schon zu Ende, wo die Geschichte doch eben erst angefangen hat?

Es passiert oft, dass ein Abenteuer viel zu früh endet. Selbst bei sehr dicken Büchern geht es mir so. Doch bei Lieferdienst von Tom Hillenbrand habe ich mich gefragt, was schiefgegangen sein könnte: Hat der Autor ein Epos geplant, der Verlag hingegen abgewinkt? Oder fehlte es im Verlauf der Story an der zündenden Idee, wie Arkadi sich ernsthaft mit den dunklen Mächten in Neu-Berlin und der ganzen Welt anlegen könnte? Vielleicht liegt es auch an mir, und ich habe kein Verständnis für kürzere Geschichten wie diese, die Anzeichen einer Satire zeigt, ihre Möglichkeiten jedoch nicht bis zum bitteren Ende ergründet. Es kann natürlich sein, dass das Buch von vornherein als Fingerübung gedacht war, in der der Plot nur angedeutet, statt zur vollen Blüte entfaltet wird.

Alles wird geliefert – innert Minuten

Berlin: Alles neu – und trotzdem gibt es Wohnkomplexe («Silos») mit alten DDR-Plattenbauten-Vibes.

Aber erst einmal zur Ausgangslage: In «Lieferdienst» ist das unvermeidliche passiert. Nur noch die ganz altmodischen Leute kaufen die Dinge des täglichen Lebens in Geschäften. Alle anderen bestellen alles online. Die Post scheint es in Neu-Berlin nicht mehr zu geben. Für die Zustellung sind privatwirtschaftliche Lieferdienste zuständig, die sich einen harten Konkurrenzkampf liefern. Jegliche Waren werden innert Minuten ausgeliefert.

Möglich machts der technische Fortschritt: Die Zustellung erfolgt durch Drohnen, Dropships in Gestalt riesiger Zeppeline oder aber durch Menschen wie Arkadi, die in atemberaubender Geschwindigkeit mit ihren Hoverboards (Planken genannt) über die Stadt düsen und die Pakete abliefern, indem sie sie in dafür vorgesehene Auffangvorrichtungen, die Drops abwerfen.

Nicht nur die Logistik hat in dieser Geschichte einen Sprung nach vorn gemacht. Auch der Kapitalismus hat sich weiterentwickelt und hat, wie Arkadis Vater glaubt, seine finale Manifestation erlangt. Es ist nämlich wie in der Online-Werbung: Bei jeder Bestellung, die ein Konsument oder eine Konsumentin absetzt, findet ein Wettbewerb statt, wer – und das ist das Motto von Arkadis Lieferdienst – am «geilsten abliefert». Das heisst: Sämtliche konkurrenzierenden Lieferdienste bewerben sich um den Auftrag. Wer das Päckchen zuerst beim Kunden abgibt, bekommt den Zuschlag und damit die Bezahlung. Alle anderen gehen leer aus und nehmen ihre Ware wieder mit.

Per Maker direkt aus Atomen hergestellt

Dieses Auktionssystem funktioniert deswegen, weil Produkte nicht auf herkömmlichem Weg hergestellt, sondern per 3D-Drucker fabriziert werden. Die Maker der neuesten Generation stellen innert kürzester Zeit jegliche Gegenstände direkt aus den zugeleiteten Atomen her. Genauso funktioniert es auch in der umgekehrten Richtung: Jegliche Objekte lassen sich schrittweise wieder zerlegen, bis nur noch die wiederverwertbaren Atome vorhanden sind: Eine perfekte Kreislaufwirtschaft. Theoretisch zumindest. Wie es sich in Wirklichkeit verhält, findet Arkadi im Verlauf der Geschichte heraus.

Womit wir beim Fazit wären: «Lieferdienst» ist eine saloppe Geschichte, in der eine Technologie im Zentrum steht, die an die Replikatoren aus Star Trek erinnert. Die Vibes, die das Buch ausstrahlt, kommen aber aus einer anderen Richtung. Nämlich aus derjenigen von Neal Stephenson und Snow Crash. In dieser Geschichte spielen die Kouriere (sic) eine entscheidende Rolle. Die Hauptfigur ist Hiro Protagonist, ein Freelance-Hacker und Pizzabote für die Mafia, der es mit Y.T. zu tun bekommt. Sie ist 15-Jährig und Lieferbotin, die mit ihrem Skateboard unterwegs ist und eine magnetische Harpune besitzt, mit der sie sich an Fahrzeuge anhängt.

Die vielen Anspielungen

Damit sind wir dem Rätsel einen grossen Schritt näher gekommen, warum Tom Hillenbrand kein Epos, sondern eher ein Fragment abgeliefert hat. Diese Geschichte ist eine Verbeugung vor «Snow Crash».

Ich habe das Buch vor zehn Jahren gelesen und nicht mehr so präsent, dass ich alle Anspielungen mitbekommen hätte. Falls mich mein Gedächtnis nicht täuscht, ist es auch kein Zufall, dass in «Lieferdienst» viele der Strassen und Orte in Neu-Berlin die Namen von zeitgenössischen Personen wie Merkel, Lindner oder Scholz tragen. Auch die losen Mundwerke der Figuren und Objekte wie das «rattige Sofa» zählen zu den «Snow Crash»-Einflüssen – bei Stephenson gibt es nämlich die Rat Things, genetisch und kybernetisch veränderte Hund-Ratten-Hybride, die als Wachen eingesetzt werden.

Und ja, vielleicht ist es besser, eine solche Ehrerbietung nicht allzu ausufernd abzufassen. Denn das wirkt schnell parasitär; als ob dem Autor selbst nichts Originelles eingefallen wäre. Trotzdem hätte ich – und Achtung, jetzt kommt ein Spoiler! – gern gewusst, wie es weitergeht, nachdem Arkadi entdeckt hat, dass es neben dem Maker (Replikator) auch einen Transporter, also eine Teleportationsmaschine gibt …

Beitragsbild: Nur, dass das Board im Buch tatsächlich hovern kann (Schäferle, Pixabay-Lizenz).

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