Heidi und Hans kommen musikalisch nicht zusammen

Hans von Audiio ist eine KI, die uns Songs empfiehlt. Gedacht ist sie für Pro­du­zen­ten von Filmen und Werbe­spots, die ihre Werke musi­ka­lisch unter­ma­len möchten. Aber na­tür­lich taugt sie auch für die stim­mige Play­list an unserer Motto-Party.

Hat die KI Musikgeschmack? Vor gut einem Jahr habe ich Audioatlas getestet. Das ist eine Suchmaschine, die von sich behauptet, anhand einer kurzen Beschreibung den passenden Song zu finden.

Nun bin ich neulich Hans begegnet. Das ist eine KI, die im gleichen Geschäft tätig ist und uns gezielt zu Musikentdeckungen verhelfen will. Audiio ist das Unternehmen, das hinter diesem künstlich intelligenten Musikexperten steht. Es ist in Austin zu Hause – und ja, eine KI namens Hans, die aus Texas stammt, hat meine volle Aufmerksamkeit.

Hans ist besonders auf unabhängige Künstlerinnen und aufstrebende Talente spezialisiert. Er richtet sich an Produzenten eines Films oder Werbespots¹, die anhand einer Beschreibung der Szene Musik aufspüren, die zur Untermalung des Werks geeignet wäre. Es lassen sich auch Anforderungen zur Stimmung, zum Stil und zur Anmutung der Musik machen.

Und damit ich die Resultate mit meinem Test von Audioatlas vergleichen kann, stelle ich hier noch einmal die gleichen Aufgaben wie beim ersten Test.

Der liebeskranke Hipster

Ein Hipster mit Herzschmerz, der seinen Bart abrasiert, weil er einen neuen Lebensabschnitt anfangen will.

Die ursprüngliche Beschreibung habe ich durch folgende stilistische Vorgabe ergänzt: Eine romantische Komödie für das Kino, mit einem beeindruckenden visuellen Stil und einem heiteren Ton.

Und das sind die Empfehlungen mit einer kurzen Beurteilung:

Fazit: Diese Auswahl ist nicht völlig verkehrt, aber keiner dieser Songs ist ein Aha-Erlebnis. Die Nuancen sind entscheidend – und die würde die KI nicht verstehen, selbst wenn der Prompt zehnmal so lang wäre.

Nebenbei ist interessant, woher diese Songs stammen. Einige davon finden wir auf Bandcamp. Andere sind bei Apple Music, Soundcloud und Spotify vertreten. Es gibt auch Titel, die nur über Audiio zugänglich sind.

Rocky Balboa

Ich bin seinerzeit auf die Idee verfallen, Aufgaben zu stellen, bei denen es eine eindeutig richtige Antwort gibt. Diese Beschreibung soll zu einem Song führen, der wie Eye of the Tiger von Survivor klingt oder zumindest die gleiche Energie vermittelt:

Ein Boxer, der eine grosse Chance bekommen hat, trainiert für einen wichtigen Kampf. Die Szene zeigt ihn, wie er mit Boxbewegungen durch die Strassen rennt, wie er Holz hackt, Seil springt, Klimmzüge und Rumpfbeugen macht.

Zusätzlich habe ich die folgende szenische Beschreibung gegeben: Ein Film mit vielen Kampfszenen und einer Atmosphäre von Männlichkeit und Adrenalin.

Hans gibt folgende Vorschläge:

  • La Jett – Collateral: martialisch, aber zu langsam für schweisstreibende Trainingszenen.
  • Yellen – Hustle: Auch dieser Song hat mir zu wenig Tempo. Das Intro ist energetisch, aber zu düster. Wenn im Film die Musik nicht bloss unterlegt wird, sondern die ganze Szene auf den Song choreografiert würde, könnte es klappen. Es gäbe aber pathetische Aufnahmen in Zeitlupe.
  • Wes Harris – Pace: zu wenig Optimismus und Siegeswillen.
  • Jonezen – Lords of War: Dieser Song passt für eine Armee, die in den Krieg zieht, aber nicht für einen Mann, der sich im Zweikampf messen möchte.
  • Marscott – Lifting Momentum: Der Titel passt nicht zum Song, diese Musik hebt mich nicht hoch, sondern drückt mich nieder. Zum Gewichtheben wäre er in Ordnung.
  • Astronic – Imperious: Ohne Intro passt dieser Song halbwegs. Die langsamen Bridges erfordern wiederum eine enge Abstimmung von Bild und Musik – einfach drunterlegen geht nicht.

Fazit: Die Ohrwurm-Qualitäten von «Eye of the Tiger» fehlen durchs Band. Ich spüre in diesen Songs weder den unbändigen Drang eines Manns, der es schaffen will, noch den Bezug zum körperlichen Training.

Heidi

Ich erwarte nicht, dass Hans mir auf die folgende Beschreibung ein Stück ausgräbt, in dem zufälligerweise die Liedzeile «Deine Welt sind die Berge» vorkommt. Aber es liegt auf der Hand, dass folgende Beschreibung Titel hervorbringen muss, die für ein Kinder-Publikum geeignet sind:

Bei diesen Tipps machen sich keine Johanna Spyri-Vibes breit.

Ein Mädchen in den Schweizer Bergen, das bei Sonnenaufgang aus einer Holzhütte tritt. Sie winkt ihrem Grossvater zu, der vor der Hütte sitzt. Sie sieht einen Jungen, der mit einer Herde Ziegen daherkommt und rennt auf ihn zu.

Und mit dieser Ergänzung herrscht kein Zweifel mehr an der Zielgruppe: Ein Kinderfilm, der das Herz berühren soll.

Nebst der passenden Stimmung muss der Song auch dem Ort der Handlung und der Stimmung gerecht werden. Sie müssten die Kargheit der Berge und die Kleinteiligkeit dieser Lebensgemeinschaften wiedergeben. Natürlich verstehe ich, wenn Hans in seinem Repertoire keine Songs hat, die von Schweizer Volksmusik inspiriert sind – aber es gäbe sicherlich Titel, die weniger urban klingen?

Fazit: Ich weiss leider nicht, ob der Katalog von Audiio überhaupt passende Empfehlungen hergeben würde. Aber so oder so müssen wir hier ein Totalversagen konstatieren. Keiner dieser Vorschläge ist auf ein Kinder-Publikum zugeschnitten. Und von den Bergen höre ich auch nichts.

Es bleibt dabei: Ich glaube nicht, dass die künstliche Intelligenz dieser Aufgabe hier gewachsen ist. Sie kann im besten Fall Anstösse liefern, in welche Richtung wir suchen könnten. Aber mehr auch nicht.

Und ich glaube nicht, dass sich daran auf absehbare Zeit etwas ändern wird: Die KI ist einigermassen gut darin, menschliche Problemlösungsstrategien zu imitieren. Das klappt aber nur dann, wenn sich diese vernünftig in Worte fassen oder über Daten zuverlässig eingrenzen lassen. Musik appelliert nun dummerweise viel häufiger an unser Gefühl als an den Intellekt. Warum ein Song zu einer Stimmung, einem Lebensmoment oder auch nur zu einer bestimmten Situation passt, lässt sich oft nicht logisch nachvollziehen und schon gar nicht eindeutig beschreiben. Denn es liegt nie nur am Text, an der Melodie, an der Stimme oder der Instrumentierung. Denn – und das gilt für Kunst generell – ein Werk lässt sich in seiner Wirkung nie anhand der Analyse einzelner Merkmale erklären.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass wir bei Audiio auch ohne KI suchen können; anhand von Stichworten und mit Filtern zur Stimmung, Genre, Instrumentierung, Songaufbau, Tempo (Bpm) Gesang und Länge. Drei Recherchen führt Hans kostenlos durch. Für die dauerhafte Nutzung brauchen wir ein Abo für 15 oder 99 US-Dollar. Oder wir erwerben das lebenslängliche Nutzungsrecht für einmal 299 US-Dollar.

Fussnoten

1) Nebst den professionellen Gründen zur Musikrecherche lässt sich eine solche Musiksuchmaschine natürlich auch privat benutzen: Vielleicht möchten wir eine Motto-Party mit passender Playlist abhalten. Vielleicht wollen wir aus reiner Neugierde ein bestimmtes Thema ergründen und uns mit dem Soundtrack entsprechend inspirieren lassen. Und vor allem ist die thematische oder inhaltliche Recherche eine hervorragende Methode, den musikalischen Horizont zu erweitern.

Beitragsbild: Statt in den Bergen aus Versehen am Strand gelandet (LaughingRaven, Pixabay-Lizenz).

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