Vor zwölf Monaten habe ich behauptet, die sozialen Medien stünden am Wendepunkt: Sie hätten ihre Berechtigung verspielt und das endgültige Ende sei nahe. Nun, am Ende des Jahres 2024, stellen wir fest, dass keine der grossen Plattformen verschwunden ist. Meine Hoffnung, Twitter würde Konkurs gehen, hat sich nicht bewahrheitet. Auch wenn es Stimmen gibt, die vermuten, dass Musks Plattform zu einem rechten Getto verkommt.
Man kann es auch genau andersherum sehen: Twitter hat zu einer neuen Rolle gefunden. Die hat nichts mehr mit der ursprünglichen Idee einer offenen Plattform für die freie, freundliche Meinungsäusserung und für Informationen in Echtzeit zu tun. Vielmehr hat Elon Musk den Kurznachrichtendienst in eine politische Kampfmaschine verwandelt, bei der die Wahrheit kein Gewicht mehr hat.
Die Bedeutung dieser Plattform, die heute X heisst, bemisst sich in ihrer Kraft, Meinungen zu bilden und Entscheidungen zu lenken. Und zwar konkret in Elon Musks eigenem politischem Sinn: als Wahlkampfhelfer für die Republikaner. Ob das Zukunft hat, ist mehr als fraglich. Die Langeweile, die bei Gettr und Truthsocial herrscht, spricht gegen die politische Isolierung.
Zu Bluesky oder Mastodon zu wechseln, ist harte Arbeit
Ich bleibe bei der Einschätzung, dass die Social-Media-Müdigkeit inzwischen gross ist. Das ist ein wichtiger Grund, warum die Konkurrenz bislang nicht abgehoben hat. Es ist zwar hocherfreulich, wie Bluesky nach der Wahl Trumps im November von einem erneuten Twitter-Exodus profitieren konnte. Meine Prognose ist, dass dieser Aufschwung nachhaltig ist: Es entwickelt sich dort eine Community, die vielen Twitter-Vertriebenen eine neue Heimat gibt. Doch ob der öffentliche Einfluss von Bluesky jemals so gross sein wird wie bei Twitter in den besten Zeiten, ist nicht erwiesen – und ich glaube es erst, wenn ich es sehe.
Es bleibt dabei, dass die Vernetzung bei Bluesky nicht den gleichen Enthusiasmus auslöst wie seinerzeit bei Twitter, wo wir voller Begeisterung Dinge wie den Follow Friday abhielten. Denn der Charme und die unschuldige Freude des ersten Mals kommt nicht mehr zurück. Die meisten von uns haben das alles schon gesehen – und jetzt Energie in den Aufbau eines neuen Beziehunggeflechts zu investieren, nur weil Elon das alte kaputtgemacht hat, ist der Freude über Bluesky zum Trotz nicht sehr attraktiv.
Das habe ich nicht kommen sehen
Nochmals zurück zu Twitter: Unterschätzt habe ich vor einem Jahr das demagogische Missbrauchspotenzial. Ich wusste zwar, dass Musk alles tut, um seinen politischen Ansichten auf seiner Plattform Gehör zu verschaffen. Ich war aber der Ansicht, dass er dieses Ziel als Privatmann verfolgt. An die Möglichkeit, dass er als wirkmächtiger Helfer in Trumps Wahlkampfteam auftreten könnte, habe ich im Traum nicht gedacht. Und es war nicht absehbar, dass Trump und Musk zu einer unheiligen Allianz zusammenfinden würden.
Das war leider nicht das erste Mal, dass ich Musk falsch eingeschätzte. Sollte ich aufhören, seine Motive analysieren zu wollen? Nein. Aber ich muss lernen, dass Musks Aktivitäten oft eine unheimliche Dynamik entwickeln, die sich in eine Richtung entfalten, die Musk – und davon bin ich überzeugt – anfänglich auch nicht auf dem Schirm hatte. Aber er kapiert schnell und hat keine Hemmungen, sich ungeachtet traditioneller Moralvorstellungen in jede Richtung zu bewegen, die seinen Interessen dient. Und wie begeisterungsfähig er für Ideen ist, die die meisten von uns als völlig unrealistisch und fantastisch betrachten würden, ist hinlänglich bekannt.
Zu nützlich und lukrativ
Das Lehrstück, das Elon Musk 2024 abgeliefert hat, macht das nahe Ende der sozialen Medien unwahrscheinlich. So gross die Ernüchterung über die enttäuschten Erwartungen auch ist, können diese Plattformen zur Not immer noch für politische Zwecke gebraucht und ausgenutzt werden – genauso, wie das Zeitungsverleger schon früher gern taten. (Was uns ironischerweise «Washington Post»-Chef Jeff Bezos heuer in Erinnerung rief.)
Es geht aber nicht nur um Twitter, denn auch beim Konkurrenten Meta ist die Untergangsstimmung gewichen: Zwar dümpelte Facebook 2024 auch uninspiriert und müde vor sich hin. Doch die Plattform tat das auf unglaublich lukrative Weise. Mark Zuckerberg konnte heuer einen gigantischen Gewinn einfahren.
Wie wird das weitergehen? Wir werden uns weiterhin mit den sozialen Medien herumschlagen müssen. Dabei sollten wir sie als Gefahr für die Demokratie begreifen. Und wie neulich im Radio besprochen, ist es wichtig, sich eine Strategie zuzulegen, um den destruktiven Elementen etwas Positives entgegenzusetzen.
Und um die Gelegenheit aufrechtzuerhalten, mich Ende 2025 wieder selbst korrigieren zu dürfen, wiederhole ich meine Prognose, wonach Musk nicht zum mächtigsten Mann der Welt geworden ist. Denn wie auch «Watson» urteilt, wird die Bromance von Trump und Musk nicht lange halten.
Beitragsbild: Sie kann leider auch nichts dafür (Polina Zimmerman, Pexels-Lizenz).
Zum Glück bin ich kein Journalist, kann auf X und Co. verzichten und kann mich über SRF, 20 Minuten etc. informieren, was so auf der Welt passiert. 😉
Geht mir auch so – Mastodon reicht mir, auch, um mit Matthias Schüssler zu diskutieren. Und zur Not noch das Fratzenbuch, u.a. wegen der vielen MusikerInnen.
Ansonsten: Republik.ch, bajour.ch, tsri.ch, hauptstadt.be, journal21.ch – das reicht, um eine Zeit lang mit „Zeitung lesen“ beschftigt zu sein 🙂
Salü Urs, Danke für die Links. Werde den „journal21“ genauer anschauen. Tschüss.