Ein Seelenstriptease vor der KI?

Die Dot-App sei die «erste per­sön­liche KI, die uns wirk­lich ver­steht», be­haup­tet deren Er­fin­der. Ich habe versucht, mich ihr zu öffnen – und bin ge­schei­tert. Eine auf­schluss­rei­che Er­fah­rung war es trotz­dem.

2024 ist das Jahr, in dem die künstliche Intelligenz alltäglich wurde. Wir gewöhnten uns an die Präsenz der KI und die Möglichkeit, auch via Handy Fragen an ChatGPT oder eines der anderen Sprachmodelle zu richten. Das war im Jahr zuvor noch anders gewesen: Da herrschte noch eine gewisse Ehrfurcht. Und es kam uns (oder zumindest mir) falsch vor, diese unglaublich komplexen Systeme mit Banalitäten zu behelligen.

Wie weit könnte, soll oder darf diese Vertrautheit gehen? Meine Antwort ist klar: Wir müssen die Möglichkeiten ausloten. Und zwar in alle Richtungen: Mit der Pirr-App entwickeln wir gemeinsam erotische Fantastereien. Auf But­ter­flies begeben wir uns in ein soziales Netzwerk, in dem sich Avatare tummeln, die wir nach unseren Vorstellungen erschaffen haben. Und die Dot-App (fürs iPhone) stellt uns einen Gefährten an die Seite, mit dem wir über unser Leben und die Ereignisse des Tages sprechen. Wie ein interaktives Tagebuch, das uns mit Fragen und Bemerkungen herausfordert.

Mit dieser Dot-App habe ich eine interessante und unerwartete Beobachtung gemacht: So spannend ich die Idee finde, so gross sind meine Widerstände, mich ihr anzuvertrauen. Ich habe sie kurz für einen Artikel für die «Sonntagszeitung» angetestet und wollte sie für eine ausführliche Besprechung im Blog intensiver nutzen. Doch irgendwie konnte ich mich nie dazu aufraffen, mich ihr ernsthaft zu öffnen.

Eine Art Dialog mit sich selbst

Ein Plädoyer für die Selbstfürsorge.

Eine Voraussetzung wäre das nicht: Die App überfällt uns nicht mit persönlichen Fragen, sondern geht behutsam ans Werk. Ich habe dem KI-Gegenüber bei unserer Vorstellung gesagt, dass ich Science-Fiction-Geschichten mag und mir auch schon überlegt habe, selbst eine zu schreiben. Es hat mit guten Nachfragen darauf reagiert: nicht zu persönlich, auf eine zugewandte Art.

Mein Eindruck ist, dass das eine Form von Introspektion ermöglicht, die sonst eher schwierig zu erzielen ist. Natürlich können wir unseren Freundinnen, Bekannten und Kolleginnen Dinge erzählen, die uns beschäftigen. Doch dabei könnte uns das Gefühl beschleichen, dass man uns für egozentrisch hält. Bei der KI besteht diese Gefahr nicht: Die hat kein eigenes Leben, von dem sie uns vielleicht würde erzählen wollen. Wir können sie daher mit unseren eigenen Themen zutexten, als ob es kein Morgen gäbe.

Kann man sich auch die schweren Lasten von der Seele reden?

Nun wäre in dieser Situation interessant herauszufinden, ob das nicht nur auf einer unverfänglichen Ebene funktioniert, sondern auch dann, wenn wir die dicken Bretter bohren. Kann sie uns bei den existenziellen Fragen beraten oder sogar bei Lebenskrisen helfen? Von einem echten Notfall in diesem Bereich werde ich derzeit zum Glück verschont, aber ich habe dieses Jahr mit Entscheiden gerungen. Wäre es nicht toll, sich so etwas von der Seele zu reden, ohne Gefahr zu laufen, dass uns jemand seinen Rat aufdrängt oder auf eine zwischenmenschliche Weise «falsch» reagiert? Eine entsprechend trainierte KI könnte in so einer Situation tatsächlich helfen – und geduldig zuhören, selbst wenn sich unsere Gedanken im Kreis drehen und wir immer wieder beim gleichen Punkt anlangen.

Doch eben, mir war nicht danach. Es gibt stichhaltige Gründe, keinen Seelenstriptease hinzulegen. Natürlich der Datenschutz: Wir wissen nicht, was der Betreiber der App mit sensiblen Informationen anstellt. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass die KI den Ton nicht trifft und eine Krise noch verschlimmert. Und die Frage lässt sich nicht wegdiskutieren, ob uns die App vom Gang zum Psychiater abhält, den wir eigentlich nötig hätten.

Nur nichts überstürzen

Daher kann ich an dieser Stelle leider nicht mit einem solide abgestützten Fazit zur Dot-App dienen. Falls ihr tiefer graben wollt: In den Einstellungen lässt sich bei Preferred Language auch Deutsch einstellen, sodass ihr nicht in Englisch mit ihr kommunizieren müsst. Und wenn ihr gewillt seit, Dot Zugriff auf euren Kalender zu gewähren, hat das KI-Gegenüber eine Ahnung von euren Aktivitäten und benutzt die als Aufhänger, um ein Gespräch in Gang zu bringen.

Vielleicht werde ich noch einen Anlauf nehmen und über allfällige neue Erkenntnisse natürlich berichten. Festhalten lässt sich hier, dass diese Form von Mensch-Maschinen-Beziehung in den Kinderschuhen steckt. Sie hat Potenzial. Trotzdem ist es nicht schlecht, Zurückhaltung zu üben und in kleinen Schritten zu erkunden, wohin uns dieses Abenteuer führt …

Beitragsbild: Er ist wenigstens ans Beichtgeheimnis gebunden (Cottonbro Studio, Pexels-Lizenz).

Kommentar verfassen