Zeus würde an der Bahnhofsstrasse nicht gross auffallen

Die Netflix-Serie «Kaos» ver­schmilzt die grie­chi­sche Göt­ter­welt mit dem Hier und Heute. Das könnte zum Schluss ver­leiten, dass die Paral­le­len grösser sind als die Unter­schiede.

Bei dieser Serie bin ich mir noch immer nicht sicher: Ist sie genial? Oder ist sie zu überkandidelt?

Die Rede ist von Kaos, einer Netflix-Serie, die nebst 3 Body Problem (wo ich noch bei der Buchvariante stecke) und The Gentlemen (das mir zu überzogen war) in diesem Jahr zu reden gab. Die Idee: Geschichten aus der griechischen Mythologie so realistisch und nah an der Jetztzeit zu erzählen wie irgendwie möglich. Und klar, dass sich die Serie gegenüber den klassischen griechischen Sagen viele künstlerische Freiheiten herausnimmt:

  • Zeus, gespielt von Jeff Goldblum, steckt mitten in der Midlife-Crisis.
  • Poseidon ist ein Wichtigtuer, der mit seiner Jacht prahlt.
  • Hera betreibt ein Überwachungssystem, das der NSA in nichts nachsteht.
  • Orpheus ist eine Art Harry Styles, der in seinem Publikum Männlein und Weiblein in den Bann schlägt und eine vielleicht etwas zu exzessive Beziehung zu Eurydike pflegt.
  • Besagter Eurydike, die sich lieber «Riddy» nennt, fühlt sich überfordert. Und weil ihre Liebe nicht mehr so innig brennt, will sie sich von ihrem Superstar-Freund trennen.

Das Beziehungsdrama zwischen Orpheus und Eurydike nimmt einen wichtigen Teil der Handlung in den ersten Folgen ein. Getreu der Originalerzählung kommt «Riddy» ums Leben. Zwar nicht durch einen Schlangenbiss, sondern durch einen Autounfall – in einer Stadt, die uns als Heraklion auf Kreta nahegebracht wird, die aber verdächtig wie New York City ausschaut.

Orpheus – aber ohne die Lyra.

Auch die Unterwelt präsentiert nicht genauso, wie wir sie uns vielleicht ausgemalt haben. Sie erscheint erstens komplett in Schwarzweiss und zweitens ist sie überhaupt nicht so gruselig wie befürchtet. Eurydike überquert den Styx in einem überfüllten Kreuzfahrtschiff und muss dann feststellen, dass man ihr die Wiedergeburt verweigert. Orpheus hat ihr nämlich ihre Münze vorenthalten, sodass sie ihre Passage nicht bezahlen kann und in einer Vorhölle festsitzt, in der die Bürokratie regiert.

Dionysos ist wenig zum Feiern zumute

Wie sein mythologisches Vorbild macht sich Orpheus nun auf, um Eurydike aus der Unterwelt zurückzuholen. Doch er tut das auf eine Weise, die sich nicht so ganz mit meinen Erinnerungen an meinen Lateinunterricht deckt, bei dem ich das Vergnügen hatte, mich an Ovids Metamorphosen abzuarbeiten. Der Halbgott tut sich bei Netflix mit Dionysos zusammen. Er ist nicht der fröhliche und ausgelassene Gesell, der sich hauptsächlich mit Wein und Festen beschäftigt. Stattdessen trägt er einen ausgewachsenen Knatsch mit Zeus aus, der sein liebevoll ausgesuchtes Geschenk (eine hässliche Uhr) verschmäht. Dieser Konflikt hat seinen Ursprung in Zeus’ misogynem Verhalten, das einst wie heute sprichwörtlich ist. In dem Fall hat er Dionysos’ Mutter in eine Biene verwandelt.

Aus Unzufriedenheit unterstützt Dionysos Orpheus beim Versuch, gegen die göttliche Ordnung zu verstossen. Um in den Hades zu kommen, müssen sie – auch etwas anders als in der ursprünglichen Erzählung – sich einer Art Fernsehquiz stellen. Und … ohne zu viel zu verraten, wächst sich die Auflehnung in eine Art Rebellion aus. Womit ein moderner Bezug hergestellt wäre – zu unserer Zeit, wo autoritäre Machtausübung an Popularität und Verbreitung gewinnt.

Die Unterwelt ist schwarzweiss – und die Überfahrt über den Styx etwas beengt.

Hedonistisch wie eh und je

Ist es diese politische Interpretation, die die griechische Sagenwelt heute interessanter für die Popkultur macht als auch schon? Zu meiner Schulzeit wirkte sie angestaubt, doch heute taucht sie wieder häufiger auf unterhaltsame Weise auf. Bei Percy Jackson (siehe auch hier) stehen die Unterhaltung und die Absicht im Vordergrund, den Kindern die Mythen nahezubringen. Das gilt auch für Pattie et la Colère de Poséidon (Die wilden Mäuse). Das ist ein Kinofilm, den ich im Sommer mit meiner Tochter geschaut habe. Bei der tollen Arte-Serie 50 Shades of Greek, die sich an Erwachsene richtet, ist wie bei «Kaos» das erklärte Ziel, die Moderne anhand der vorchristlichen Zeit zu interpretieren.

Fazit: Mir gefällt das ausgezeichnet. Die Serie gibt sowohl inhaltlich als auch optisch viel her. Natürlich wird es Puristen geben, die sich die Sagen lieber originalgetreu erzählen lassen würden. Ich jedenfalls finde es verblüffend, wie gut sich diese Götter in die Jetztzeit und in unseren heutigen, hedonistischen Lebensstil einfügen.

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