Anfang August hat Audible Maven angekündigt: eine künstliche Intelligenz, die sich besonders gut mit Büchern auskennt und uns bei der Suche nach Lektüre berät. Eine naheliegende Idee: Vor einem Jahr habe ich ausgetestet, wie gut die Empfehlungen von ChatGPT bei Büchern, Filmen und Serien ist.
Die Qualität der Tipps hängt – wenig überraschend – von den Informationen ab, die beim Training eingeflossen sind: Bei ChatGPT kennen wir den Datenbestand nicht. Wir können mutmassen, dass Buchkritiken und Filmrezensionen in den Trainingsdaten stecken, vielleicht auch wissenschaftliche Arbeiten. Auf den Volltext der Bücher und die Drehbücher der Filme und Serien hat OpenAIs KI in den meisten Fällen keinen Zugriff – das legt mein Experiment zu Erich Kästners «Das fliegende Klassenzimmer» nahe.
Wenn wir die ungeklärten Urheberrechtsfragen grosszügig ausklammern, hätte Amazon in der Tat die Möglichkeit, eine KI mit dem Volltext aller Bücher zu trainieren, die in elektronischer Form (als E-Book) verkauft werden. Wenn dazu noch die teils Tausenden Rezensionen der Kunden und ein paar professionelle Einschätzungen von echten Literaturkritikern dazukämen, ergäbe sich ein enormer Informationsfundus: In der Tat eine Art Super-Bücherexperte, der alles gelesen hat, was es zu lesen gibt und weiss, was Leserinnen und Lesern mit sehr unterschiedlichen Vorlieben und Gewichtungen von all dem halten.

Das ist einerseits eine gruselige Vorstellung. Andererseits aus Sicht des Bücherfreunds und der Bücherfreundin auch extrem verlockend. Wir könnten nach Inhalten suchen, die auf herkömmliche Weise nicht oder nur durch eine sehr belesene Bibliothekarin oder einen vifen Buchhändler aufzuspüren wären.
Was Maven kann, soll ein Experiment zeigen. Ich frage mit teils erfundenen, teils auf bestimmte Bücher abzielenden Vorgaben nach Empfehlungen.
1. Test: Das frei erfundene Drama in der Toskana
In welchem Buch, in dem eine Villa in der Toskana eine Rolle spielt, gibt es eine geldgierige Hauptperson und eine Wendung, die während einer Gewitternacht stattfindet?
Hier war meine Erwartung, dass Audible-Maven sagt, es gebe nichts Passendes. Aber zu meiner Überraschung bekam ich eine längere Liste mit Tipps. Die ersten drei Titel sind Camino Island von John Grisham, First Lie Wins von Ashley Elston und The Villa von Rachel Hawkins.
Wie gut diese Bücher zu meiner Vorgabe passt, kann ich leider nicht sagen, weil ich die Beschreibung spontan frei erfunden habe. Ein kurzer Check mit Google Books ergibt beim Grisham-Buch keinen Treffer für die Toskana. Aber – und das ist ein Problem, das ich vielleicht mal separat bespreche – ist die Suche in Google Books bedauerlicherweise inzwischen unzuverlässig.
2. Test: Ein Buch, das jeder kennen sollte
Darum ein zweiter Versuch, der beim oben erwähnten Experiment zu Erich Kästner ansetzt. Ich formuliere meine Anfrage zwar rätselhaft – aber so, dass für eine KI mit Zugang zum Volltext die Antwort «Das fliegende Klassenzimmer» lauten muss:
In welchem Buch, das an einem Gymnasium stattfindet und von der Dynamik zwischen den Schülern handelt, spielt eine Schneeballschlacht eine wichtige Rolle, ebenso ein Lehrer, der immer den gleichen Witz vom Mond erzählt?
Das ist eindeutig genug, dass selbst eine Google-Suche mit den wesentlichen Stichwörtern zum passenden Treffer führt. Maven schlägt allerdings Mathilda von Roald Dahl, Alexander X von Edward Savio (hier besprochen) und Waiting for Godot von Samuel Beckett vor – plus einige weitere Titel, u.a. Narziss und Goldmund von Hermann Hesse und Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry; jeweils in den englischen Ausgaben.
Das sind, mit Verlaub, keine guten Empfehlungen. Da Maven selbst bei einer Anfrage in Deutsch nur englischsprachige Tipps gibt, können wir zu seinen Gunsten annehmen, dass er Erich Kästners Geschichte nicht kennt. Es gibt zwar eine Übersetzung (The Flying Classroom), aber die ist nicht als Hörbuch erhältlich.
3. Test: Ein Buch, das wirklich jeder kennt

Also, ein dritter Versuch, zu einem Buch, das es in Englisch und auch als Audible-Hörbuch gibt und das anhand folgender Beschreibung gut zu erkennen sein müsste:
Ein Buch über einen Jungen, der bei seiner bösen Verwandtschaft leben muss und der durch eine Zugfahrt an einen besseren Ort gelangt.
Klar, da merkt schon ein sechsjähriger Bücherwurm, dass Harry Potter gemeint ist. Den schlägt Maven jedoch nicht vor: dafür A little Princess von Frances Hodgson Burnett, Oliver Twist von Charles Dickens und The Book Thief von Markus Zusak vor.
Fährt Oliver Twist mit dem Zug? Die Antwort ist leicht zu finden, da es den Volltext bei Gutenberg gibt. Dort ist zwar u.a. von einem Trauerzug (funeral train) und Gitterstäben (rails) die Rede, aber nicht von der Eisenbahn.
Um sicherzugehen, dass das Problem nicht an der deutschen Frage liegt, verlange ich die gleiche Empfehlung auch auf Englisch. Tatsächlich erhalte ich eine etwas andere Liste, in der «A little Princess» wiederum aufgeführt ist. Ausserdem «Mathilda» von Roald Dahl – jene Empfehlung, die ich schon bei der Frage erhalten habe, die auf Erich Kästner abzielte.
Fazit: Ein totaler Reinfall
Mit dieser Empfehlung geht Maven leider mit wehenden Fahnen unter. Der Bot übersieht die naheliegenden Empfehlungen und gibt Tipps, die nicht zum Wunsch passen. Besonders irritierend ist, dass der gleiche Tipp zu zwei unterschiedlichen Anfragen gegeben wird. Natürlich könnte es theoretisch sein, dass «Mathilda» zufälligerweise tatsächlich in beiden Fällen passt.
Aber mir scheinen die Indizien doch eher darauf hinzudeuten, dass Maven nur aus einem winzigen Fundus schöpft. Man könnte unterstellen, dass es sich um einen Katalog handelt, den Audible – warum auch immer – promoten will. Das macht Maven jeoch zum Buchverkäufer, nicht zum Literaturexperten.
Und die Empfehlung zu «Alexander X» von Edward Savio deutet noch in eine andere Richtung: Das ist ein Titel, der nicht einmal ansatzweise zur Vorgabe passt – den ich aber bereits gekauft habe. Das wäre als Versuch zu werten, die Nutzerschaft zufriedenzustellen, indem man ihr vorschlägt, was sie bereits kennt und mag. Dieser Trick, von Netflix ad nauseam angewandt, reduziert das Risiko von Enttäuschungen. Er verhindert aber eben auch spannende Neuentdeckungen.
Beitragsbild: Ich glaube nicht, dass Maven die alle kennt (Min An, Pexels-Lizenz).