Wer würde im Jahr 2024 noch eine Social-Media-App lancieren? Ich nicht. Denn diese Form der Interaktion hat den Zenit überschritten.
Das heisst aber nicht, dass ich neuen Apps aus dieser Kategorie keine Chance geben würde: Es gibt die Chance, es besser zu machen – und zu beweisen, dass die Abgründe von Twitter und Facebook nicht das Mass aller Dinge sind. Die Hürde liegt allerdings sehr hoch. Der Frust sitzt inzwischen so tief, dass auch abseits der grossen Plattformen selten echte Freude aufkommen mag.
Diesen Widrigkeiten zum Trotz kommt hier die App Spread Social zum Zug: Sie verspricht uns nicht weniger als eine Ära von «smart social» – was unweigerlich den Schluss nahelegt, dass Facebook und Twitter unter «dumb social» zu rubrizieren wären –, und der Betreiber trägt den Slogan «Real people > algorithms» vor sich her: Menschen seien wichtiger als Algorithmen. Und noch ein Bekenntnis: Es gebe keinen unkontrollierten User-generated content, der bloss provozieren solle. Und keine Likes, keine Upvotes, keine freien Kommentarbereiche.
Eine fundierte, kompetente Mediennutzung
Stu Rogers, einer der Gründer und Chef der neuen Plattform, erklärt, dass sich die Inhalte auf objektives Wissen, den produktiven Wissenserwerb und Dialog konzentrieren sollen. Es geht nicht um Memes oder um Dinge, die jemand irgendwo in einer dunklen Ecke des Internets gefunden hat, sondern um eine fundierte, kompetente Medienauswahl und auf Beiträge aus Quellen, denen Nutzerinnen und Nutzer tatsächlich vertrauen.
Nachdem die Erwartungen jetzt ausreichend hochgesteckt sind, wollen wir natürlich wissen, was die App, die es bislang erst fürs iPhone gibt, effektiv bietet. Nach der Anmeldung landen wir direkt auf der Home-Seite – ohne dass wir bevorzugte Themengebiete angeben müssten, wie das in anderen News-Aggregatoren der Fall ist. In der Unterrubrik Following läuft die Vermittlung der Inhalte – wie zu den Urzeiten der sozialen Medien – einzig über die persönlichen Verbindungen, also über die Personen, denen wir folgen.
Alles noch sehr familiär
Es gibt auch die Rubrik Explore, in der anscheinend eine öffentliche Zeitleiste zu sehen ist. Die Anzeichen deuten darauf hin, dass die Nutzerschaft noch sehr überschaubar ist: Es kann auch mal eine Stunde dauern, bis ein neuer Post auftaucht. Und die Zahl der Klicks, die bei jedem Posting links unten angezeigt wird, liegt meist im ein- oder zweistelligen Bereich.
Das deutet darauf hin, dass die Nutzerschaft noch so klein ist, dass eine Frohnatur sie als «illuster» bezeichnen würde – und ein bissiger Kritiker als irrelevant. Allerdings begegne ich gleich in den ersten Minuten einem bekannten Namen: David Bauer von der «Republik», den ich von Threads und generell «aus dem Internet» kenne. Und er hat auch sogleich eine gute Empfehlung für mich: eine Episode mit John Oliver aus dem Podcast «The Daily» von der «New York Times». Das ist zwar kein Geheimtipp im eigentlichen Sinn. Trotzdem hätte ich ohne den Hinweis in der App diese Folge verpasst, in der der «Last week tonight»-Star einige interessante Einblicke gibt, wie seine Sendung entsteht.
Unter Discover finden sich die Leute, denen wir folgen können. Hier entdecken wir einige bekannte Namen, u.a. auch Anne Applebaum von «The Atlantic» – eben mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Sie schätze ich sehr – aber ich würde ihren Empfehlungen auch auf Twitter begegnen.
Eine Empfehlung, weil keine Empfehlung
Fazit: Das Bedürfnis ist vorhanden. Ich hätte gern ein soziales Netzwerk, bei dem die journalistischen Inhalte ernst genommen werden. Bei Facebook, Twitter und Linkedin ist das erwiesenermassen nicht der Fall.
Es bleibt das alte Dilemma, dass ein soziales Netzwerk mit seinen Nutzerinnen und Nutzern steht und fällt. Momentan ist Spread Social noch ein so exklusiver Klub, dass ich ihn nicht empfehlen sollte. Im vollen Bewusstsein um den Widerspruch tue ich das hier trotzdem: Denn falls bloss die Hälfte meiner Leserschaft dort mitmacht, wird das die Attraktivität der App gleich beträchtlich steigern. Und wenn ihr dann noch alle meine Blogposts in Umlauf bringt, steht der Weltherrschaft nichts mehr im Weg.
Nein, ich scherze. Mir gefällt die Idee eines sozialen Netzwerks für News, auch wenn sie alles andere als neu ist. Vor zwei Jahren habe ich post.news vorgestellt. Es gab dort einen ähnlichen Ansatz. Der hat nicht verfangen; die Website hat am 31. Mai dichtgemacht. Sie sei nicht schnell genug gewachsen, um ein «echtes Geschäft oder eine bedeutende Plattform zu werden».
Silicon Valley-Esoterik
Ich vermute, dass die Ansprüche der Investoren zu hoch waren. Zwar kenne ich keine Wachstumszahlen, doch meines Erachtens ist es nach weniger als zwei Jahren (der Launch war im November 2022) viel zu früh, eine solche Entscheidung zu treffen. Natürlich kenne ich das «Build Fast, Fail Faster»-Prinzip, das man in Tech-Kreisen so liebt. Post.news ist indes ein exemplarisches Beispiel dafür, dass das Bullshit bzw. Silicon Valley-Esoterik ist: Wenn wir daran denken, wie lang es gedauert hat, bis sich Facebook oder Twitter etablieren konnten und der regelmässige Besuch zur Routine wurde, dann kann man nicht nach ein paar Monaten schmollend den Stecker ziehen.
Für Spread Social ergibt sich eine Lücke, die diese neue Plattform vielleicht zu füllen vermag. Ich wünsche einen langen Atem. Denn dass die App innert ein paar Monaten verfängt, glaube ich nicht.
Beitragsbild: Weil Nachrichten und fundierte Beiträge auf Twitter und Facebook immer unwichtiger werden, will eine neue Wissens-App in die Lücke springen (sweetlouise, Pixabay-Lizenz).
Ich verstehe nicht, weshalb Spread nur über eine App und nur für iPhone zugänglich sein soll. Gerade bei Social Networks ist es doch wichtig, möglichst viele Benutzer aus der ersten Berichterstattung mitzunehmen.
Wenn es in einem halben Jahr auf Android und in einem Jahr im Browser läuft, interessiert das doch fast niemanden mehr.
Zudem lese zumindest ich die versprochenen hochwertigen Inhalte eher am PC als auf dem Smartphone.
Bezüglich Threads: Aktiviere doch die Federation, damit man Dir aus dem Fediverse folgen kann. Von Musk zu Zuckerberg ist etwas vom Regen in die Traufe. 😀
Voll einverstanden! Wir erinnern uns an Clubhouse: ein Riesenhype und keine Android-App. Ich nehme an, es steckt System dahinter, die Teile des Puzzles (Apps für Android und iPhone, Webzugang etc.) nach und nach dazuzubauen. Aber das birgt die Gefahr, dass die engagierten Kunden der ersten Stunde das Interesse verlieren, weil sie den Dienst nicht so nutzen können, wie sie gerne würden. Ich lese News auch gern am Computer – sowieso zum Themensammeln. Darum ist das für mich auch wichtig.
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