Ein soziales Netzwerk, aber ohne die lästigen Menschen

Auf SocialAI scharen wir eine Gefolg­schaft von KI-Fol­lowern um uns, die jede unserer Ge­fühls­regungen fre­ne­tisch be­jubeln oder hä­misch kom­men­tieren. Stellt sich die Frage: Wozu soll das gut sein?

Die sozialen Medien könnten so schön sein, wenn es dort keine Menschen gäbe. Dann könnten wir uns dort allein zum Zweck des Zeitvertreibs und der Entspannung aufhalten – ohne Gefahr zu laufen, uns von einer trollhaften Wortmeldung provozieren zu lassen.

Das scheint die Idee von SocialAI zu sein. Oder vielleicht ist es auch nur ein Versuch herauszufinden, was sich mit der künstlichen Intelligenz alles anstellen lässt. Oder ist es ein Gag? David Pierce, einer der wichtigen Redaktoren bei «The Verge», ist anderer Ansicht:

Die App ist kein Witz, sondern ein durchdachter Ansatz, wie wir mit grossen Sprachmodellen interagieren. Das fühlt sich erschreckend ähnlich an, wie wenn man heutzutage in sozialen Netzwerken unterwegs ist. Vielleicht sogar besser.

Positiv oder negativ? Die Stimmung in der Gefolgschaft dürfen wir selbst bestimmen.

Es gibt SocialAI fürs iPhone. Wie bei einem richtigen sozialen Netzwerk legen wir ein Profil mit Spitznamen, Foto und einer kurzen Biografie an. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass wir unsere Gefolgschaft massschneidern dürfen. Wir wählen u.a. aus den Gruppen Supporter, Skeptiker, Fans, Pessimisten, Alarmisten und Realisten aus. Insgesamt gibt es gut dreissig solcher Archetypen¹, die zusammen eine umfassende Typologie von echten menschlichen Social-Media-Usern ergeben. Die allein finde ich interessant.

Die interessanten Follower müssen wir uns erarbeiten

Leider dürfen wir als Neuanmelderinnen anfänglich nur die ersten zehn Kategorien nutzen. Einige der spannenderen Typen bleiben uns verwehrt, namentlich die Sarkastiker, die Quer- und Konträrdenker und die Dramaköniginnen. Es sei denn, wir holen mindestens fünf Leute zu der App hinzu. (Was ihr für mich tun würdet, wenn ihr diesen Link anklickt.)

Der Beweis: In den sozialen Medien lässt sich über alles streiten.

Wenn wir in dieser App einen Post absetzen, dauert es nur ein paar Sekunden, bis die ersten Reaktionen eintrudeln. Und die sind, da hat David Pierce absolut recht, bei oberflächlicher Betrachtung nicht von Kommentaren zu unterscheiden, wie sie uns in echten sozialen Medien begegnen könnten. Ich schreibe: «Jetzt ein saftiges Stück Rhabarberkuchen, das wärs!» und einer fragt, ob der wirklich so toll sei, ein anderer weist auf die Kalorien hin, eine Dritte fürchtet sich vor fragwürdigen Zutaten und eine Vierte will mich daraufhin psychoanalysieren.

Wie in echt: Potenziell endlose Diskussionen

Wenn wir in der Liste der Antworten auf den Post nach unten scrollen, werden ad-hoc weitere Kommentare angehängt, sodass eine potenziell endlose Saga entsteht.

Natürlich liegt die Frage auf der Hand: wozu?

Ich bin mir nicht sicher, ob wir mit dieser App tatsächlich viel über die Interaktion mit Sprachmodellen lernen, wie David Pierce vermutet. Ich sehe darin vielmehr eine Parodie auf die echten sozialen Medien – und der kann ich etwas abgewinnen.

Vielleicht eignet sich SocialAI auch als Trainingscamp für angehende Social-Media-Manager. Die stellen sich eine Gefolgschaft aus Alarmisten, Tolls, Hatern, Meckerern und Witzereissern zusammen und testen ihre Posts vorab in der App. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass das einen Vorgeschmack darauf gibt, welche Reaktionen in der richtigen Welt zu erwarten sind.

Das ist übrigens die Illustration, die Dall-e generiert, nachdem ich den ganzen Blogpost hier als Prompt übergeben habe. Er hat es nicht zum Beitragsbild geschafft, weil mich Oliver Reichenstein sonst kritisiert hätte.

Wozu?

Es ist möglich, auf Kommentare zu antworten, was wiederum eine Lawine an Antworten auslöst. Das heisst: Auch das Gefühl, ständig in der Defensiven zu sein, lässt sich mit SocialAI wunderbar reproduzieren. Aber natürlich beantwortet das nicht die Frage: wozu?

Im Vergleich zu dieser App finde ich Butterflies als KI-Experiment tiefgründiger und aussagekräftiger. Und ich frage mich, ob sich hier nicht ein eleganter Ausweg aus der Social-Media-Misere auftut: Statt uns dort weiterhin selbst zu zerfleischen, ziehen wir uns zurück und überlassen der KI das Feld. Und den paar Unentwegten, die nicht davon lassen wollen.

Fussnoten

1) Supporters, Skeptics, Fans, Critics, Thinkers, Optimists, Pessimist, Counselors, Alarmists, Realists, Trolls, Sarcastic people, Cheerleaders, Haters, Debaters, Contrarians, Odd-balls, Nerds, Doomers, Intellectuals, Visionaries, Jokesters, Ideators, Drama Queens, Brutally Honest, Curious Cats, Conservatives, Problem-solvers, Liberals, Astrologists, Teachers und Charmers

Beitragsbild: Dieses Warnschild sollte vor jeder Social-Media-App angebracht werden (Mark König, Unsplash-Lizenz).

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