Beitragsbild: Tim Berners-Lee, der Vater des World Wide Web (ITU Pictures/Flickr.com, CC BY 2.0).
Die erste Website ging am 20. Dezember 1990 online. Aber wie lange währte es, bis die Schweizer Medien davon Wind bekamen? Waren sie von der schnellen Truppe? Oder haben sie – wie öfter in technischen Belangen – den grossen Moment verschlafen?
Wir müssen leider konstatieren, dass letzteres der Fall war. Es dauerte bis zum Jahr 1994, bis es der Begriff «World Wide Web» in eine Zeitung schaffte¹. Und das, obwohl das WWW am Cern in Genf das Licht der Welt erblickte. Ob Ende 1990 eine Pressemeldung verschickt worden war, die in keiner Zeitungsstube gelesen worden war, weil alle schon in den Weihnachtsferien weilten, weiss ich indes nicht.
Also, wer wars? Ich kann verraten, dass nach dem ersten Artikel schnell weitere folgten. Lässt sich daraus ableiten, dass Medienschaffende gerne Ideen ihrer Kollegen aus anderen Häusern aufgreifen? Die Chronologie hier legt diesen Gedanken nahe.
Wie durch Buchhandlungen zu schlendern
Den ersten Treffer, den ich gefunden habe, landete die Wirtschaftszeitung L’Agefi. Dort erschien am 5. August 1994 der Artikel Mieux naviguer sur Internet:
Das phänomenale Wachstum des Internets, dieses Netzwerk von Computer zu Computer, das vor etwa zwanzig Jahren in den Vereinigten Staaten erfunden wurde, geht nun einher mit dem wachsenden Erfolg einer Navigationssoftware, dem World Wide Web. Ursprünglich stammt es von Informatikern des Cern, die es entwickelt haben, um den Physikern des Forschungszentrums zu ermöglichen, die Datenbanken ihrer amerikanischen Kollegen vom Fermi Lab und anderen Forschungseinrichtungen in der Teilchenphysik zu erkunden.
Es folgt eine Erklärung, wie das technisch funktioniert:
Die grosse Originalität dieser Anwendung besteht darin, die Prinzipien der Hypertext-Technologie zu nutzen, die es ermöglicht, in Datenbanken ohne festes Ziel zu recherchieren, ähnlich wie man in einer Buchhandlung schlendert, ohne zu wissen, welches Buch man kaufen möchte.
Das Internet ist ein passives System. Eine bestimmte Anzahl von Servern (derzeit 4000) speichert meist wissenschaftliche, aber mittlerweile auch wirtschaftliche, politische und zunehmend kommerzielle Daten.
Um eine spezifische Information in einem dieser Server abzurufen, funktioniert das World Wide Web ähnlich wie die Post. Der Client-Computer sendet eine Anfrage an den Server mithilfe eines gemeinsamen Protokolls. Der Server kann auf diese Anfrage antworten, indem er das angeforderte Datenpaket verschickt. Alle diese Vorgänge werden in wenigen Sekunden abgewickelt, und die Paketübertragung verhindert, dass eine Verbindung zu lange offen gehalten werden muss.
Alles in allem ein schlüssiger Text, der auch die Idee des Hypertexts erklärt und schliesslich auch künftige Herausforderungen erahnen lässt:
In diesem Zusammenhang wächst die Zahl der kommerziellen Nutzer des Webs exponentiell. Schon jetzt stellt der wissenschaftliche Verlag Elsevier seine kostenpflichtige Dokumentation ins Internet. Ebenso findet man dort die Speisekarten von Restaurants im Silicon Valley oder das Programm der Veranstaltungen eines Nachtclubs in San Diego. (…)
Diese Expansion bringt jedoch technische und vor allem soziologische Probleme mit sich. Im vergangenen Mai fand zu diesem Thema ein Treffen am Cern statt, um sowohl zu erörtern, wie das Web verbessert werden kann, als auch über die aufkommenden Probleme der Computersicherheit und des Urheberrechts nachzudenken. Kein Rechtsrahmen hatte eine solche technologische Entwicklung vorhergesehen.
Im elektronischen Spinnennetz
Knapp zwei Wochen später, am 17. August 1994, nahm sich «Der Bund» unter dem Titel Ein Computernetz verliert seine Unschuld dem Thema an:
Aus der Softwareküche des Cern in Genf stammt der World Wide Web. Ein WWW-Dokument enthält Hinweise auf weitere Dokumente, die sich irgendwo im Netz befinden: Auf eine bestimmte Suchfrage hin listet das WWW alle passenden Dokumente auf, unabhängig davon, in welcher Datenbank auf welchem Kontinent sie sich befinden. WWW verbindet zudem Text, Ton und Bilder, weshalb das elektronische Spinnennetz für die Werbung besonders interessant ist.
Die Beschreibung finde ich nicht gelungen. Sie klingt nach einer Suchmaschine, die es 1994 noch nicht gab. Interessant finde ich indes den Hinweis auf die Werbung. Woher diese Idee wohl kam? Denn wenn ich mich an das Ur-Web erinnere, dann mit dem wohligen Gedanken, dass es weitgehend werbefrei war.
Wiederum drei Wochen später, am 6.9.1994, berichtete die NZZ. Dieser Text ist deutlich weniger zugänglich und mit den vielen substantivierten Verben auch kein Paradebeispiel leicht verständlicher Tech-Berichterstattung:
Mittlerweile ist es möglich, Informationsdienste auf der ganzen Welt auf einfachste Weise mittels Mausklick anzusteuern und Texte, Bilder, Graphiken oder Videos auf dem lokalen Endgerät mit benutzerfreundlichen graphischen Oberflächen abzufragen. Dieses «world-wide-web» genannte Hypermedia-Konzept erlaubt aber auch andere Möglichkeiten wie das Ausfüllen von interaktiven graphischen Formularen oder die Rückmeldung der genauen Position des Mauszeigers des Benutzers an den Anbieter. Das objektorientierte Konzept des Informationsbezugs erlaubt es dem Endbenutzer, eine beliebige Dienstleistung an einem beliebigen Ort der Welt zu beziehen.
Am 19.9.1994 legte die «Schweizer Woche» nach:
Einzig die Benützerfreundlichkeit lässt noch zu wünschen übrig. Den totalen Durchbruch wird das Internet erst bei höherem Bedienungskomfort schaffen. «Die Bedienung wird in Zukunft deutlich einfacher», sagt Marcel Schneider von Switch. Die Entwicklung läuft dabei in Richtung «Fenstertechnik». Im neuen Dokumentenverbund «World Wide Web», dem benützerfreundlichsten Internet-Dienst, enthält jedes Dokument Hinweise auf weitere Dokumente irgendwo im Netz. Mit einem einzigen Mausklick kann von Dokument zu Dokument gesprungen werden.
Ich bin nicht sicher, ob die Stichworte «Fenstertechnik» und «Dokumentenverbund» tatsächlich weitergeholfen haben. Aber eindrücklich klingt es auf alle Fälle.
Hat jemand Online-Shopping gesagt?
Die NZZ nahm am 25.11.1994 einen weiteren Anlauf. Claude Settele, dem ich ein, zwei Mal begegnet bin, erklärt im Beitrag In diesem Netz bleibt jeder hängen die Sache schlüssig, finde ich:
Der Boom der letzten Monate ist massgeblich auch auf den neueren Dienst namens World Wide Web zurückzuführen. Das Web bietet eine gigantische Informationsbibliothek von verketteten Dokumenten, durch die man per Mausklick benutzerfreundlich navigieren kann. Die nötige Software dazu stellt Internet mit dem kostenlosen Programm Mosaic gleich selber zur Verfügung. Rund 100’000 Kopien von Mosaic werden pro Monat runtergeladen. Mit dem Web erweitert sich das Internet zunehmend auch zum führenden elektronischen Marktplatz. Bereits gibt es über 20’000 kommerzielle Internet-Adressen, wo Waren und Dienstleistungen feilgeboten werden, zum Teil gleich bestellt und mit Kreditkarte bezahlt werden können. Weil Web-Dokumente auch mit Grafiken, Ton und sogar Videosequenzen angereichert werden können, lassen sich die Produkte besser denn je präsentieren.
Riecht es hier schon ein bisschen nach Dotcom-Blase?
Wie auch immer: Pioniere des Web, auch bei der Berichterstattung, waren die Romands. Daraus schliesse ich, dass die Nähe zum Cern eine Rolle spielte – vor allem aber auch die Tatsache, dass in Genf viele internationale Organisationen angesiedelt sind. Ich habe auch nachgeforscht, wann der Begriff der Homepage zum ersten Mal gedruckt wurde. Das war am 15.12.1994 im Lausanner Wochenblatt L’Hebdo der Fall. Unter dem Titel Les Romands fous d’Internet fehlt der Begriff «World Wide Web», und auch die «Homepage» steht nur einer Bildlegende.
Eine Epidemie!
In der Westschweiz verfügten damals etwa 8000 Personen über einen Internetzugang. Gemäss «L’Hebdo» arbeiteten die meisten damals für eine für multinationale Unternehmen, Hochschulen oder globale Unternehmen. Im Spätsommer 1994 sei die «Internet-Manie» ausgebrochen – Privatpersonen entdeckten das Netz:
Seitdem ist es eine Epidemie. Überall werden Einführungskurse organisiert, die überrannt werden. Es gibt immer mehr «Zugangsanbieter» und auch immer mehr Konferenzen zu diesem Thema. Mehrere kleine und mittlere Unternehmen sowie eine Genfer Tageszeitung arbeiten daran, eigene Server einzurichten. Kurz nach dem «Guide de Genève» wurde ein «Guide de Fribourg» ins Leben gerufen. In den Ellipse-Buchhandlungen (Genf und Lausanne) nimmt die Abteilung mit Internet-Handbüchern immer mehr Platz ein. Die meisten sind auf Englisch, aber die ersten französischen Gebrauchsanweisungen sind gerade aufgetaucht, und der Verkaufsanstieg «ist exponentiell», sagt Valérie Solano: «Das Interesse ist enorm». Um diesem neuen Wahnsinn, der die Romands erfasst hat, gerecht zu werden, plant Ellipse, neben den Handbüchern bald auch die Software und den Zugang zum Netzwerk zu verkaufen.
Abgesehen von dem sozialen Snobismus, den eine «Internetadresse» auf der Visitenkarte darstellt (die meiner Wenigkeit lautet brg@hebdo.ch), ist die Verbindung zum Netz ein ernsthafter Vorteil.
Die Selbstironie gefällt mir. Nebenbei stelle ich fest, dass ich es leider um einen guten Monat verpasst habe, diesen Beitrag genau dreissig Jahre nach dem ersten Bericht übers WWW zu veröffentlichen …
Fussnoten
1) Mit dem Vorbehalt, dass ich in der Schweizer Mediendatenbank SMD und via e-newspaperarchives.ch recherchiert habe. Auch zusammen decken diese Archive nicht alle Schweizer Medien ab. Es kann daher gut sein, dass auf einem Mikrofilm eine frühere Erwähnung zu finden wäre. ↩