Es ist eine persönliche Sache, ob wir Bücher am liebsten hören, elektronisch lesen oder sie uns ab bedrucktem Papier zu Gemüte führen. Ich gehöre zur Digitalfraktion und konsumiere am liebsten via Kopfhörer. Nebst den Hörbüchern bin ich auch den E-Books nicht abgeneigt. Gegen die klassische, gebundene Darreichungsform habe ich nichts; ausser, dass mir die Bücher in meiner bevorzugten Länge zu schwer sind und zu viel Platz in der Wohnung wegnehmen.
Jedenfalls bin ich der Ansicht, dass das E-Book noch immer nicht den Stellenwert hat, der ihm zusteht. Ändert sich das nun mit dem Tolino Vision Color?
Das ist die Weiterentwicklung des Tolino Vision 6. Diesen E-Reader habe ich vor gut zwei Jahren ausführlich getestet und ihn in mein Herz geschlossen: Er sieht gut aus, liegt angenehm in der Hand und liefert gute Anzeige mit vielen Anpassungsmöglichkeiten. Die Bedienung ist nicht so einfach, wie sie sein könnte – aber wenn wir uns eingefuchst haben, dann kommen wir zurecht. Wir bringen via Cloud auch eigene Inhalte aufs Gerät. Und dass der Tolino, als der Kindle von Amazon, keinen Kopierschutz (DRM) verwendet, ist ein echtes Plus.
Ein offener Store wäre ein riesiges Plus
Eine einzige Sache hat mich damals gestört: nämlich der fehlende App-Store. Es wäre praktisch, auch Apps aus Drittquellen installieren zu können. Und klar, ich verstehe, dass die Buchhändler aus dem deutschsprachigen Raum es nicht unbedingt schätzen würden, wenn auf diesem Weg die Kindle-App auf den Tolino käme. Das birgt die Gefahr, dass Leute ihre Bücher bei Amazon kaufen. Umgekehrt würde es auch die Chance eröffnen, dass Kundinnen und Kunden dem Kindle abschwören, weil sie mit dem Tolino mehr Quellen anzapfen könnten.
Diese Möglichkeit gibt es auch mit dem neuen Tolino nicht. Dafür hat der, wie der Name andeutet, ein Farbdisplay. Und die Frage stellt sich sofort: Bringts das?
Wenig Erwartungen – positive Überraschung
Ganz ehrlich: Ich habe nicht auf das Farbdisplay gewartet. Die allerwenigsten Bücher sind bunt. Bei den meisten gibt es schwarze Buchstaben auf weissem Papier, und fertig. Spontan fällt mir die Die unendliche Geschichte von Michael Ende ein, bei der die Geschichte mit roten Buchstaben anfängt: Bastian Balthasar Bux ist ein Bewohner unserer Welt; doch sobald die Handlung nach Phantásien wechselt, erscheint die Schrift in Blaugrün. Doch dieser typografische Kniff ist die absolute Ausnahme – auch wenn mir ChatGPT mitteilt, es gebe durchaus andere Autoren, die ebenfalls mit Farbbuchstaben operiert hätten¹.
Natürlich existieren Bücher mit bunten Illustrationen, die auf schwarzweissen Lesegeräten nur unzureichend reproduziert werden. Und selbstverständlich gilt es auszuprobieren, ob der Tolino sich mit dem Farbdisplay für digitale Comics eignet.
Es gibt einen weiteren Vorteil, an den ich nicht gedacht hatte, der aber unmittelbar ins Auge sticht: Das sind die Bibliotheksansicht mit den Büchern – und natürlich der Store, in dem wir Lektüre-Nachschub besorgen. Da Buchcover typischerweise überaus bunt sind, sind die Cover in der monochromen Variante schwer zu erkennen und auch nicht sonderlich attraktiv. Das ist bei der Farbdarstellung deutlich besser.
Pastellig, nicht knallbunt
Wobei eines sofort klarzustellen ist: Die Farben sind nicht so knallig, wie wir uns das von einem LCD-Bildschirm oder gar einem OLED-Display gewohnt sind. Im Gegenteil: Die farbige E-Ink-Anzeige wirkt verhalten und eher pastellig; für manche vielleicht sogar blass. Mich stört das nicht sonderlich, weil auch gedruckte Bücher keine Hochglanzprodukte sind und, wenn sie mehrfarbig gedruckt sind, trotzdem einen relativ kleinen Farbraum abdecken.
Es gibt eine zweite, interessante Einsatzmöglichkeit fürs Farbdisplay: In Kombination mit dem digitalen Stift, dem Tolino Pen lassen sich Notizen in zehn verschiedenen Farben vornehmen. Das sieht schick aus und kann helfen, um Anmerkungen systematisch zu verschiedenen Aspekten vorzunehmen.
Für Comics ist das Display zu klein
Was die Comics angeht, muss ich noch ein paar Titel mehr ausprobieren; aber bisher ist mein Urteil klar: Allein wegen der Displaygrösse ist der Vision Color nicht sonderlich gut geeignet. Es funktioniert einigermassen in der Queransicht: Da wird eine hochformatige Seite im Comic auf zwei querformatige Displayseiten verteilt. So lässt sich das Geschehen entziffern, sofern wir gute Augen besitzen oder kurzsichtig sind.
Zoomen ist mit der Spreizgeste möglich, und der Bildinhalt lässt sich dann per Finger verschieben. Das geht allerdings träge und die Anzeige wird schummrig. Wir kennen das von E-Ink: Anders als bei älteren Modellen muss die Anzeige nicht nach jeder Veränderung des Bildinhalts durch einen Hell-Dunkel-Zyklus aufgefrischt werden, damit die vorherigen Inhalte komplett verschwinden. Diese Schatten stören bei Büchern nicht, bei Bildinhalten aber schon.
Es bleibt daher dabei: Für Comics ist ein klassisches Tablet mit LCD- oder OLED-Display die bessere Wahl. Bei diesen Anzeigen kommen die Panels auch besser zur Geltung als bei der etwas blassen Darstellung von E-Ink. Es bleibt aber dabei, dass das Farbdisplay ein hervorragendes Argument für einen offenen App-Store ist. Denn das E-Paper einer Zeitung oder die in Pocket gesammelten Online-Artikel würde ich sehr gern am Vision Color lesen.
Fazit: Für Leute, die bereits einen einigermassen aktuellen E-Book-Reader besitzen, ist das Farbdisplay kein Grund, um auf das neueste Tolino-Modell umzusteigen. Wer sich bislang dieser Gerätekategorie verweigert hat, der könnte ihr jetzt eine Chance geben. Und erfreulich: Der Vision Color kostet gleichviel, wie der oben erwähnte Vision 6, nämlich 199 Franken.
Drei Kritikpunkte:
- Es ist an sich erfreulich, dass die Software häufig aktualisiert wird. Das hat leider zur Folge, dass man als frisch gebackener Besitzer erst einmal einen Update-Marathon abhalten muss, bevor man seinen neuen E-Reader überhaupt ausprobieren kann.
- Und irritiert bin ich, dass der Tolino nur mein 2,4 GHz-WLAN sieht. Eine Unterstützung des 5-GHz-Frequenzbands ist überfällig!
- Wenn wir eigene Inhalte hinzufügen, die kein Coverbild aufweisen, ist in der Bibliothek nicht ersichtlich, worum es sich handelt. Es müsste entweder der Titel oder aber eine Inhaltsvorschau angezeigt werden.
Fussnoten
1) Das sind die Nennungen von ChatGPT:
- «La Disparition» (1969) von Georges Perec: Dieses Buch ist ein literarisches Experiment, in dem der Buchstabe «e» vermieden wird. In einer speziellen Ausgabe wurde der Text in verschiedenen Farben gedruckt, um die Abwesenheit des Buchstabens und die Struktur des Textes hervorzuheben.
- «House of Leaves» (2000) von Mark Z. Danielewski: In diesem experimentellen Roman werden verschiedene Farben verwendet, um unterschiedliche Erzählebenen und Themen zu kennzeichnen. Zum Beispiel wird das Wort «House» immer in Blau gedruckt, und die verschiedenen Farben tragen zur komplexen Struktur des Romans bei.
- «Only Revolutions» (2006) von Mark Z. Danielewski: Dieses Buch von demselben Autor wie «House of Leaves» verwendet ebenfalls Farben, um die Erzählungen der beiden Hauptfiguren zu unterscheiden. Jede Figur hat ihre eigene Schriftfarbe, was die Dualität und parallele Erzählweise des Romans unterstützt.
- «Die Stadt der träumenden Bücher» (2004) von Walter Moers: In der limitierten Ausgabe dieses Buches sind die Namen der Kapitelanfänge in unterschiedlichen Farben gedruckt, um die mystische Atmosphäre der Welt von Buchhaim zu unterstreichen.
- «The Black Book» (1990) von Orhan Pamuk: In bestimmten Ausgaben dieses Buches wird roter Text verwendet, um die mystische und historische Erzählung von anderen Handlungssträngen zu unterscheiden. ↩