Martin Steiger ist nicht nur Anwalt, Blogger und Podcaster, sondern auch scharfzüngiger Medienkritiker. Seine Urteile lässt er nicht nur den grossen Medien angedeihen, sondern mitunter auch kleinen Blogs wie meinem. Neulich habe ich einen nicht allzu tiefschürfenden Beitrag über das neue Online-Archiv alter Telefonbücher veröffentlicht. Steiger schrieb daraufhin auf Bluesky:
Der «tolle Artikel» ist Schleichwerbung der übelsten Art. Du hättest direkt auf die Medienmitteilung der, ähmm, sympathischen Swisscom Directories AG verlinken können. Das «Archiv» ist eine PR-Aktion von «localsearch», die leider sehr gut funktioniert. Halt der übliche «Qualitätsjournalismus». Der Fokus auf die Werbung dürfte auch der Grund sein, wieso sich «localsearch» bei der Umsetzung nicht besonders viel Mühe gegeben hat. Es kommt auf die Umsetzung ja gar nicht an. Wichtig ist, dass Medien die zur Verfügung gestellten Inhalte verwenden, ohne das Ganze als Werbung offenzulegen.
Mit der Schleichwerbung meint er nicht meinen Blogpost, sondern einen verlinkten Artikel von Watson.ch. Die Kritik zielt nicht direkt auf meinem Blogpost – indirekt aber natürlich schon. Schliesslich habe auch ich über die PR-Aktion geschrieben und Localsearch Resonanz verschafft.
News ist, was jemand nicht in der Zeitung lesen will
Damit steht ein interessanter Sachverhalt im Raum, den ich lieber hier im Blog als in den sozialen Medien erörtere. Nämlich der implizite Vorwurf, dass Medien keine Medienmitteilungen aufgreifen sollten, weil sie sich sonst zum erweiterten PR-Arm der Unternehmen machen. In prägnanterer Form kommt diese Haltung in einem bekannten Zitat zum Ausdruck:
News is what somebody does not want you to print. All the rest is advertising.
In Deutsch: Eine Nachricht zeichnet sich dadurch aus, dass jemand nicht möchte, dass sie veröffentlicht wird. Alles andere ist Werbung oder auch Propaganda. Das Zitat wird gern George Orwell zugeschrieben, manchmal auch William Randolph Hearst. Von wem es tatsächlich stammt, ist unklar; die ersten Fundstellen ohne Autoren-Angabe stammen von 1918 in New York und Chicago.
Frage: Lassen wir diese Behauptung gelten?
Falls ja, würden in der medialen Berichterstattung nur noch investigative Recherchen übrig bleiben. Wenn keine Machenschaften ans Licht gezerrt und Drahtzieher angeprangert werden, gilt es nicht als News. Als Resultat würde die «Tagesschau» an den allermeisten Tagen ausfallen und Zeitungen höchst sporadisch erscheinen. Der Lokalteil wäre ohnehin gestrichen, weil es dort sehr häufig über Dorf- und Stadtfeste, um Vereinsaktivitäten, Firmenjubiläen und Behörden-Verlautbarungen geht.
Vom Sport blieben nur die Dopingfälle übrig und in der Inlandberichterstattung gäbe es keine autorisierten Politiker-Interviews oder Berichte von der Albisgüetli-Tagung mehr. Auch den Kulturteil müssten wir uns ans Bein streichen. Erlaubt wären nur noch die ganz brutalen Verrisse von Büchern, Konzerten oder Theateraufführungen. Sie müssten aber so krass ablehnend ausfallen, dass sie sich Betroffenen nicht mit der ebenfalls weltbekannten Phrase «Es gibt keine schlechte Publicity» schönreden können.
Was hat Lindner machen lassen?
Eine Blüte sehe ich allerdings beim People-Journalismus. Klatsch und Tratsch hätte Hochkonjunktur: Denn natürlich will Christian Lindner nicht in der Zeitung oder auf Twitter lesen, was er hat machen lassen.
Hm, oder vielleicht doch? Von wegen «keine schlechte Publicity»?
Wenn wir die Behauptung, jegliche mediale Aufmerksamkeit würde den eigenen Bekanntheitsgrad fördern mit dem vermeintlichen Orwell-Zitat zusammenbringen, was bleibt dann übrig? Genau: Nichts.
Da selbst die Aufdeckung der schlimmsten Machenschaften letztlich positiv für alle ist, dann ergibt sich daraus die Abschaffung der Medien in Ermangelung von jeglichem berichtenswertem Stoff.
Aber natürlich sind beide Idiome in absoluter Form falsch. Auch Qualitätsjournalismus – ohne Anführungszeichen – darf sich an Pressemeldungen orientieren. Fischen darf man, wenn das maritime Bild erlaubt ist, im ganzen Meer der Neuigkeiten. Aber es braucht klare Kriterien, was man tatsächlich herauszieht und zur Verkostung anbietet.
Reflexion und Selbstreflexion
Wir müssen nicht darüber diskutieren, dass die Medien die Relevanzkriterien oft hinten anstellen, wenn eine Story ohne Nachrichtenwert gute Einschaltquoten verspricht. Ich halte es allerdings für scheinheilig, wenn sich Leute darüber empören, die für ein paar Likes in den sozialen Medien den gröbsten Unsinn posten.
Als simple Erkenntnis lässt sich festhalten, dass auch bei Facebook, Twitter, Linkedin, Mastodon und Bluesky das Klima deutlich angenehmer wäre, wenn die Leute nur eine Sekunde darüber reflektieren würden, warum sie etwas posten. Sollten sie zum Schluss kommen, dass sie nur aus Wichtigtuerei, wegen der Selbstdarstellung, zum Zweck der Polemisierung oder zur Effekthascherei geht, müssten sie es zum Wohl aller bleiben lassen.
Mit dieser weltbewegenden Erkenntnis könnte ich euch hier entlassen. Aber ich halte es für sinnvoll, Selbstreflexion nicht nur zu predigen, sondern auch selbst zu üben.
Meine fünf goldenen Regeln
Konkret heisst das, meine Überlegungen zum Beitrag zu den historischen Telefonbüchern von Localsearch und meine Haltung zu Pressemeldungen generell offenzulegen:
- Wichtig ist für mich die Frage, ob der Nutzen für meine Leserinnen und Leser das Interesse der beteiligten Unternehmen aufwiegt.
- Ich gebe Medienmitteilungen niemals eins zu eins weiter, sondern reichere sie mit einer Eigenleistung an.
- Eine Eigenleistung kann ein Kommentar oder eine Einschätzung sein. Bei technischen Produkten bietet sich ein Test an, der aus strikter Perspektive der Nutzerschaft erfolgt. Entscheidend ist, was das Produkt tatsächlich leistet und nicht die Versprechungen des Herstellers.
- Ich bin mir des riesigen Graubereichs zwischen unabhängiger Information und Marketing bewusst, der im Tech-Bereich existiert.
- Deswegen lege ich Wert darauf, die Distanz zu Unternehmen zu wahren.
Konkret lasse ich mich, anders als in den Anfängen meiner journalistischen Karriere, kaum mehr zu Anlässen einladen. Ich halte die vertretbar, wenn ich mir Chancen auf interessante Hintergrundgespräche mit Leuten ausrechne, die nicht voll in die Marketingstrategie eingebunden sind.
Bei den historischen Telefonbüchern ist der Nutzen für Leserinnen und Lesern eindeutig gegeben (Punkt 1). Ich habe das Archiv getestet und kam zum Schluss, dass das dicke Mängel hat (Punkt 3). Man kann darüber diskutieren, ob ich die noch deutlicher hätte kritisieren sollen. Es wäre angebracht gewesen, weil sich die Swisscom als Betreiberin von localsearch.ch gern als Technologie-Vorreiter geriert, und diesem Anspruch hier absolut nicht gerecht wird. Aber mein Beitrag war als lockerer Stoff für den ersten August gedacht gewesen und nicht als grosse Abrechnung.
Der gemeine Influencer als Druckmittel gegen Journalisten
Erklärungsbedürftig ist abschliessend Punkt 5: Ich habe vor fast zehn Jahren dargelegt, wie sich die Beziehung zwischen den Interessenvertretern in den Marketing-Abteilungen der Unternehmen und uns Journalisten eingetrübt haben. Früher herrschte eine stillschweigende Akzeptanz der unterschiedlichen und oft gegenläufigen Interessen. Weil Unternehmen heute die Medien leicht umgehen und ihre Botschaften auch über soziale Medien und willige Influencerinnen und Influencer platzieren können, hat sich das Machtverhältnis verschoben. Aus einer gegenseitigen Abhängigkeit ist eine einseitige geworden. Sich dieser als Journalistin und auch als Blogger zu entziehen, ist schwieriger, aber umso wichtiger als je zuvor.
Beitragsbild: Fast das gleiche, was auch in der Zeitung steht? (Deon Fosu, Unsplash-Lizenz).
Ich finde, Journalisten dürfen selbstverständlich Inhalte aus Pressemeldungen verwenden. Sie müssen sich ja irgendwo über Neuigkeiten informieren. Was ich aber erwarte, und in Qualitätsmedien meist auch vorfinde, ist eine kritische Einordnung. Ich will wissen, wann Apple ein neues iPhone bringt oder Logitech eine neue Maus. Aber ich will dann nicht ungeprüft lesen, dass es die beste Kamera hat, die man je an einem Mobiltelefon gesehen hat oder es die erste Maus ist, die auf Glasoberflächen funktioniert.
Da versagen die Gratismedien. Mangels Zeit und Fachkenntnis übernimmt man Pressemeldungen fast 1:1 und verspielt so Glaubwürdigkeit. Aber wie erwähnt, bei Qualitätsmedien passiert das nicht.
Was ich mir aber auch bei Qualitätsmedien wünschen würde, wäre eine etwas grössere Vielfalt. Wenn Comparis jährlich ihre Studie über Krankenkassenkosten veröffentlicht, ist das sicher eine Nachricht. Aber man könnte mal einen anderen Experten befragen als den von Comparis, der sich halt gerade angeboten hat.