Ist die Leiche auch wirklich tot?

Ist True Crime noch ein Ding? Und muss wirk­lich einer sterben, damit eine Ge­schich­te es wert ist, er­zählt zu wer­den? Das sind Fragen, die sich wun­der­bar an­hand des Pod­casts «White – Ge­ständ­nis eines Neo­nazis» dis­ku­tieren las­sen.

Beitragsbild: Nicht ganz da, wo der vermeintliche Mord passierte (Hoover Dam, Arizona, Adam Kliczek/Wikimedia, CC BY-SA 3.0).

True Crime? Wird das nicht langsam etwas alt?

Seit es vor zehn Jahren dank «Serial» mit den Podcasts so richtig losging, ist auch die mediale Aufarbeitung von wahren Verbrechen extrem im Trend. Vermutlich war das damals ein perfekter Sturm – zwei aufstrebende Entwicklungen, die sich wunderbar gegenseitig befereuerten.

Inzwischen konnten die Podcasts beweisen, dass sie auch für andere Themenfelder taugen: Politik, Gesellschaft, Unterhaltung – und die guten, alten Laberpodcasts aus der Anfangszeit ab 2006 haben auch nicht ausgedient. Darum finde ich es in der Tat in Ordnung, wenn im Jahr 2024 die Kriminologie in den Hintergrund tritt.

Eine Geschichte, wie sie Jesus gefällt

Leider komme ich an dieser Stelle nicht um eine grosse Ausnahme herum. Der Podcast White – Geständnis eines Neonazis von «Die Zeit» (RSS, iTunes, Spotify) ist so eindringlich, dass ich ihn vorstellen muss: Ein Reporter macht sich auf zu einer Reportage, die zwar menschliche Einsichten, aber keine neuen Erkenntnisse verspricht. Die Geschichte war schon vor Jahren zu lesen, z.B. hier bei jesus.ch. Es ist nämlich eine Bekehrungsgeschichte von biblischem Ausmass.

Muss wohl von rechts nach links gedeutet werden.

Also, Reporter Bastian Berbner besucht Mike Kent. Der war lange Jahre Neonazi und liess sich in der Zeit ein riesiges Hakenkreuz auf die Brust tätowieren. Dann traf er seine Bewährungshelferin Tiffany Whitter. Die ist schwarz, war aber nicht eingeschüchtert, sondern hörte zu. Und diese ehrliche Aufmerksamkeit genügte schon, dass Mike von seinem Hass abliess und sich die das Hakenkreuz mit einem Wolf überdecken liess.

Ein Mord ist wie ein Sechser im Lotto. Oder?

Doch im Gespräch nimmt die Sache eine unerwartete Wendung: Berbner fragt, was das schlimmste sei, was er, Mike Kent, getan habe. Und er meint, er habe jemanden umgebracht. Er gesteht einen Mord, der bislang nicht aktenkundig ist. Und von dem er auf Nachfrage sagt, dass sonst niemand davon wisse.

Für einen Reporter ist das wie ein Sechser im Lotto, oder? Statt über Verbrechen zu berichten, kann er selbst eines aufklären. Das passiert selten bis nie – auch wenn es Samantha Poling von BBC Scotland neulich gelang. Ich hatte meine liebe Mühe mit ihrem Podcast «Who Killed Emma?», aber letztlich hatte diese Produktion ihren Anteil daran, dass ihr Verdächtiger im Februar 2024 zu einer langen Haftstrafe verurteilt wurde.

Bebner spürt sogleich, mit welcher Last dieses Geständnis nun auf seinen Schultern liegt. Soll er damit zur Polizei? So naheliegend das ist, in Arizona droht ihm die Todesstrafe. Auch seine früheren Nazi-Kumpels im Gefängnis könnten ihn ihm einen Verräter sehen. Doch nichts zu sagen, würde bedeuten, dass die Familie des Opfers weiterhin in Ungewissheit lebt.

«Wozu das Ganze?»

Es ist an dieser Stelle kein Spoiler, wenn ich verrate, für welchen Ausweg sich Bastian Berbner entschieden hat – er hat nämlich den Podcast gemacht, von dem hier schon die ganze Zeit die Rede ist. Es könnte aber ein Spoiler sein (⚠️⚠️⚠️), wenn ich andeute, wie sich die Geschichte weiterentwickelt. Denn je länger Berbner zusammen mit seiner Kollegin, der USA-Korrespondentin Amrai Coen, der Bluttat hinterherrecherchieren, desto stärker werden die Zweifel, ob sie überhaupt stattgefunden hat. In Phoenix gibt es niemanden, der sich an den Fall erinnert. Keine Zeugen, keine Akten bei der Polizei, keine Berichte in den lokalen Medien. Hat Mike sich bloss wichtig gemacht?

Bei «Übermedien» ist der Spott nicht zu überhören: «Die ‹Zeit› braucht nicht mal einen Mord, um einen Podcast über einen Mord zu machen», lästerte Annika Schneider in ihrer Rezension. «Wozu das Ganze?», fragt sie sich.

Nicht ganz zu Unrecht. Andererseits: Macht es einen Unterschied?

Der Podcast sei «letztendlich eine Geschichte über zwei Reporter, die zu einem Mord recherchiert haben …», bilanziert Annika Schneider. (Den letzten Teil des Satzes lasse ich weg, weil ich nicht noch mehr spoilern will.)

Auch Nichtereignisse können Ereignisse sein

Damit liefert sie, vermutlich unabsichtlich, die perfekte Definition für das True-Crime-Genre. Wie uns schon «Serial» lehrte: Der Weg ist das Ziel. Dass am Schluss Gerechtigkeit herrscht wie bei Samantha Poling, ist die Ausnahme. Es geht auch nicht darum, dass Journalistinnen und Journalisten selbst Mörder und sonstige Täterinnen zur Strecke bringen: Das ist die Aufgabe des Staates und der Justiz.

Die Aufgabe eines Podcasts ist es, aus einer persönlichen Perspektive in alle möglichen Ritzen und Winkel der Welt, der Gesellschaft und der menschlichen Seele zu leuchten – und uns auf erhellende Weise zu unterhalten. Ob das gelingt, hängt nicht davon ab, ob am Schluss alle unsere Erwartungen wunschgemäss erfüllt wurden.

Und natürlich ist die Sache theoretisch glasklar: Medien berichten über echte Ereignisse. Vermeintliche Ereignisse gehören nicht zum Themenspektrum. Nichtereignisse auch nicht – auch wenn dann der Politikteil der Zeitung oft nur halb so dick wäre.

Scheitern ist erlaubt

Doch für mich gehört auch zur Wahrheit, dass sich die Grenzen nicht immer so klar ziehen lassen. Selbst eine eindeutige Kriminalgeschichte lebt nicht nur von den juristischen Aspekten, sondern auch vom moralischen Blickwinkel, den gesellschaftlichen Implikationen. Mit Annika Schneiders Massstab könnten wir, nebenbei bemerkt, auch dem Podcast «Row Zero» über Rammstein und Till Linde­mann die Existenzberechtigung absprechen, weil da im rein kriminalistischen Sinn nichts hängen geblieben ist.

Um zur Eingangsfrage zurückzukommen: Ja, True Crime ist auch heute noch ein Ding. Aber es ist in Ordnung, wenn der Massstab nicht darin besteht, ob die Leiche am Ende tatsächlich tot ist. Ich befürworte es sehr, dass der Journalismus, der sich sonst gern allwissend gibt, hier das Stochern im Nebel, die Ambivalenz und den Zweifel zelebriert und es den Leuten erlaubt, ihm auch mal beim persönlichen Scheitern zuzusehen.

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