«Alle Konten, die Engagement-Farming betreiben, werden gesperrt und zur Quelle zurückverfolgt», hat Elon Musk vor genau drei Monaten auf Twitter verkündet.
Eine hehre Absicht: Das Engagement-Farming ist eine echte Plage. Es handelt sich um eine Methode, um Aufmerksamkeit zu erzeugen und Antworten, Likes und Retweets zu generieren. Dazu eignen sich Inhalte, die eine unmittelbare Gefühlsreaktion zur Folge haben. Es kann sich um ein positives Gefühl handeln («Jöö, diese herzige Katze!»). Aber noch besser funktionieren negative Gefühle wie Empörung, Wut, Schauder, Entsetzen und Schadenfreude.
Das Engagement Farming zeichnet sich durch weitere Merkmale aus:
- Die Relevanz spielt nahezu keine Rolle. Auch uralte Inhalte gelangen ständig neu in Umlauf.
- Der Wahrheitsgehalt ist nebensächlich. Die Inhalte sind manchmal komplett gelogen. Effektiver ist es allerdings, Sachverhalte aus dem Zusammenhang zu reissen, wie das bei der angeblich Handy-süchtigen Jugend oder den Schweizer Selbstmordboxen passiert ist.
- Und die Inhalte sind oft geklaut. Ursprünglich stammen sie von Orten wie Reddit, 4chan, und Tumblr.
Nun hat Elon Musk angekündigt, diesem Treiben ein Ende zu setzen. Aber wie hoch ist die Glaubwürdigkeit von Elons Engagement gegen die Engagement-Farmer?
Ich würde sagen: so hoch wie das Tote Meer.
Immer mehr Trash «für dich» und mich
Erstens sind seit Elons Tweet einige Wochen ins Land gezogen. In der Zeit hat sich der Zustand meiner Für dich-Zeitleiste noch brutal verschlimmert. Je nach Tageszeit erscheinen dort nebst ein paar Rechtsaussen-Twitterer fast aussschliesslich Engagement-Farmer. Nebst James, dem Twitter-Grossverdiener sehe ich Accounts wie Internet hall of fame, Matt Wallace, Creepy oder Morbid Knowledge. Neuerdings gibts auch Accounts, die «Gala» konkurrieren wollen oder banale psychologische Erkenntnisse zu Tode dreschen.
Über einen dieser Account, Morbid Knowledge, habe ich mich neulich besonders aufgeregt. Das «morbide Wissen» hat einen Thread veröffentlicht, der die ganze Widerlichkeit des Engagement Farming auf den Punkt bringt. Es werden «tragische letzte Fotos von Berühmtheiten vor ihrem Tod» gezeigt: Robin Williams, Heath Ledger, Audrey Hepburn, Marilyn Monroe, Janis Joplin, Buddy Holly, J.P. Richardson und Ritchie Valens.
Eine widerliche Zurschaustellung
Das letzte Foto eines Menschen ist etwas, das man mit Würde behandeln muss. Es darf gezeigt und soll gesehen werden – aber nicht in einem Rahmen, wo die Leute sinnlos von einer Gefühlsaufwallung zur nächsten scrollen und nichts wirklich eine Rolle spielt. Im Thread ist auch das Bild der Schauspielerin Candy Darling auf dem Totenbett zu sehen, geschminkt und von Blumen umgeben. Das Foto stammt von Fotograf Peter Hujar und hängt im Saint Louis Art Museum. Und dort gehört es auch hin: In eine Umgebung, die es uns erlaubt, diesem Menschen die letzte Ehre zu erweisen.
Und bevor ihr fragt: Ja, es gibt (gab) auch einen Account, der von Elons Algorithmus gepusht wird und Menschen beim Sterben zeigt(e). Hier, Second Death. Zum Glück ist er inzwischen gesperrt. Hoffentlich auch dank meiner Meldung! (Eine Bestätigung habe ich jedoch nie erhalten.)
Also: Wenn es Elon Musk ernst wäre, hätte er derlei Accounts schon lang zurückgebunden. Leider passiert das Gegenteil: Die Engagement-Farmer erhalten algorithmisch riesige Subventionen, die sich dank der Monetarisierungsprogramme von Twitter wie die Beteiligung an den Werbeeinnahmen auch finanziell auszahlt.
Zurück zur Quelle? Aber wie?
Es bleibt der letzte Teil des Satzes. Auch wenn die Grammatik etwas anderes nahelegt, interpretiere ich den so, dass Musk anstelle der geklauten Inhalte das Original anzeigen will. Das klingt zwar super, scheint mir in der Praxis aber in den allermeisten Fällen aussichtslos.
Denn wie angedeutet, wurden viele Memes und andere Inhalte der Engagement-Farmer ursprünglich nicht auf Twitter veröffentlicht, sondern auf einer anderen Plattform. Der Herkunft eines simplen GIFs auf die Spur zu kommen, kann aufwändig sein.
Oft ist schon die ursprüngliche Publikation im Web fragwürdig. Das Foto von Peter Hujar von Candy Darling ist so ein Beispiel: Wird Musk beim Saint Louis Art Museum nachfragen, wie es um die Social-Media-Rechte steht?
Dabei ginge es einfach: Einfach Original-Inhalte nicht abstrafen, sondern algorithmisch aufwerten. Und voilà, Problem gelöst.
Beitragsbild: Meine Twitter-Timeline – Symbolbild (TheDigitalArtist, Pixabay-Lizenz).
Bei werbefinanzierten Angeboten wird man immer mit solchen Inhalten leben müssen, welche die Verweildauer maximieren. Nicht nur bei Social Media. Auch Gratismedien arbeiten nach dem Prinzip der Empörungsbewirtschaftung. Ukraine-Krieg, Wirtschaftslage, Wahlen: alles irrelevant. Aber hey, da hat die Feuerwehr ein Büsi gerettet und da ist ein Grosi fast auf einen Betrüger hereingefallen!
Ich bin gespannt, wie das herauskommt, wenn die Jugend sich nur noch bei solchen Angeboten informiert.