In meiner Rubrik Tech-Premiere geht es meistens um Hardware und um die harten Fakten beim Fortschritt. Heute steht ein vergleichsweise weiches Thema an – wobei Zweifel angebracht sind, ob dieses Adjektiv wirklich passt. Konkret: Es geht um den guten alten Cybersex. Der tatsächlich älter ist, als gedacht.
Wikipedia behauptet, der Begriff stamme aus den 1990er-Jahren. Und, hurra!, heute finde ich mich in der erfreulichen Position des Besserwissers wieder: Ein Schweizer Medium berichtete schon zwanzig Jahre früher über dieses Phänomen. Der hiesige Pionier in Sachen computervermittelter Sexualität ist die Zeitung L’Impartial, die zwischen 1881 und 2018 im Kanton Neuenburg erschien. Er widmete sich am 29. April 1972 dem Cybersex. Das nächste Schweizer Medium stiess gemäss e-newspaperarchives.ch erst knapp zwei Jahrzehnte später auf die pikante Materie; allerdings nur fiktiv, im Rahmen der Besprechung des Films The Lawnmower Man in der NZZ vom 24. November 1992.
«Paarung aus der Ferne»
Der Text von Anfang 1972 trägt den Titel Dank der Weltraumforschung: Liebe auf Distanz. Und er ist es wert, ausführlich zitiert zu werden:
Die technologische Revolution hat nicht aufgehört, die Sitten zu verändern. Die traditionellen Konzepte von Ehe, Scheidung und ehelicher Treue werden in den nächsten zehn Jahren durch das Aufkommen eines neuen Zweigs der Kybernetik, des sogenannten Cybersex, in Frage gestellt. Laut RRI, einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift, werden die Forschungen von Masters, Johnson und Kinsey über das Sexualverhalten noch vor 1980 durch die Entwicklung eines Verfahrens übertroffen, das die Paarung aus der Ferne ermöglicht.
Genauer gesagt: Herr Müller, der sich in Kalkutta aufhält, kann seinen ehelichen Pflichten nachgehen, während seine Frau zu Hause in Thionville ist, und zwar dank der Hilfe eines Computers. Die Sexualpartner sind durch ein umfassendes Kommunikationssystem verbunden, das audio-visuell und sensorisch funktioniert. Sie können sich gegenseitig auf einem kleinen Bildschirm sehen und hören, während einige ihrer Organe mit automatischen Vibratoren verbunden sind.
An diesem Abschnitt ist fast alles bemerkenswert. Die «Paarung aus der Ferne» natürlich, und die Behauptung, es ginge um die Erfüllung der «ehelichen Pflichten». Mein Bauchgefühl sagt mir, dass der Cybersex eine Beschäftigung ist, der innerhalb einer Ehe an Bedeutung verliert. Freundlicherweise bestätigt mir ChatGPT diesen Eindruck:
Laut einer Untersuchung von Ballester-Arnal et al. (2014) nutzen sowohl verheiratete als auch unverheiratete Personen Cybersex, allerdings mit unterschiedlichen Motiven und in verschiedenen Häufigkeiten. Unverheiratete Personen sind tendenziell häufiger an Cybersex beteiligt als verheiratete Personen, was möglicherweise auf die Suche nach neuen sexuellen Erfahrungen und Partnern zurückzuführen ist.
Möglicherweise würde ich dieser These zustimmen.
Ich vermute, dass der USA-Korrespondent der Zeitung, Louis Wiznitzer, eine heikle Sache moralisch nicht überstrapazieren wollte. Der dezente Hinweis auf die «eheliche Treue» beinhaltet jedenfalls die Möglichkeit von sexuellen Abenteuern ausserhalb einer festen Bindung.

«Ein Nebenprodukt eines Weltraumforschungsprogramms»
Bei der Datierung liegt die Prognose daneben: 1980 war von Cybersex noch nichts zu sehen und nichts zu hören. Die Beschreibung des konkreten Vorgans ist allerdings ausgezeichnet: die kleinen Bildschirme beschreiben exakt ein Mobiltelefon, und Vibratoren, die sich per App fernsteuern lassen, sind heute Tatsache.
Doch was hat die Weltraumforschung mit der Sache zu tun? Der Artikel erklärt uns das wie folgt:
Das [die Funktionsweise von Cybersex] behaupten zumindest die Autoren eines Projekts namens Intersex, das diesen «technologischen Durchbruch» weltweit vermarkten will. Tatsächlich ist Cybersex nur ein Nebenprodukt eines Weltraumforschungsprogramms. Das Moffat Field Study Center (Kalifornien) suchte 1963 nach einer Möglichkeit, das Gefühl der Einsamkeit zu lindern, das Astronauten in der Umlaufbahn empfinden. Orbafil, ein kanadisches Labor, wurde mit der Entwicklung eines perfekten visuellen Kommunikationssystems zwischen der Startrampe und dem Weltraum beauftragt.
Dieses erotische Kommunikationssystem wird wie folgt beschrieben:
Ermöglichte die amerikanische Elektronik nicht bereits die Übermittlung eines Elektrokardiogramms vom Krankenbett zu Hause bis zum medizinischen Zentrum per Telefon? War es nicht denkbar, nicht nur den Herzschlag, den Atemrhythmus und die Gehirnaktivität zu übertragen, sondern auch die Lust? Nach einigen Jahren waren die japanischen Forschungen erfolgreich. In der japanischen Hauptstadt wurde ein kompletter audio-visuell-sensorischer Kommunikationskreislauf errichtet. Eine erste «Sexbrücke», die einen Mann aus Kyoto mit einer Frau aus Montreal verband, wurde erfolgreich geschlagen.
Alles etwas dubios
So weit, so lustvoll. Allerdings kommen wir jetzt zu der Stelle, an der sich die Fragezeichen häufen. Ich habe nämlich versucht, die konkreten Fakten per Internet zu überprüfen, und festgestellt, dass sich fast alle als ungenau oder falsch erweisen:
- Mit dem «Moffat Field Study Center» könnte eine Forschungseinrichtung der Nasa gemeint sein, die offiziell Ames Research Center heisst und beim Flugplatz Moffett Federal Airfield gelegen ist.
- Zum kanadischen Labor Orbafil gibt es keinen einzigen Google-Treffer. Da es gemäss der Schilderung in hochrangige Forschungen involviert war, müsste es zumindest ein paar Spuren im Netz hinterlassen haben.
- Die Bezeichnung des «Projekts Intersex» ist nicht plausibel. Schon in den 1970er-Jahren stand der Begriff für Intergeschlechtlichkeit. Es scheint mir unwahrscheinlich, dass er für Forschung im Bereich Cybersex benutzt worden wäre. Der Bezug zum Internet ist aus heutiger Sicht zwar frappant, aber er hat sich damals nicht aufgedrängt.
- Es ist auch von japanischen Forschern die Rede, nämlich von «Hikari und seinen amerikanischen Partnern». Wer mit Hikari gemeint ist, geht aus dem Text nicht hervor. Es könnte sich um einen Nachnamen handeln, wobei der Gebrauch als Vorname häufiger zu sein scheint. Die Angabe ist so vage, dass sich diese Spur nicht weiter verfolgen lässt.
- An der Forschung sei auch die «Université Tokaida» beteiligt. Zu dieser Forschungsstätte habe ich nichts gefunden. Es gibt allerdings eine Tōkai-Universität.
Die eigentliche Krux besteht darin, dass meine Recherche zum Cybersex-Projekt selbst völlig ins Leere gelaufen ist. Ich habe keine Anzeichen gefunden, dass es überhaupt stattfand. Der Artikel bleibt auch bei den Auftraggebern maximal vage. Die Erwähnung des Ames Research Center deutet auf eine Beteiligung der Nasa hin. Es ist auch denkbar, dass ein privates Forschungsunternehmen oder eine Universität ein solches Unterfangen initiieren würde; in der Hoffnung, das fertige Produkt an die Weltraumbehörde zu verkaufen.
Ist es naheliegend anzunehmen, dass nur ein einziger Journalist – der Korrespondenz einer Neuenburger Zeitung – jemals Wind von einer so grossen Sache Wind bekommen hat?
Wir dürfen als gegeben annehmen, dass sie ein gefundenes Fressen für die Medien gewesen wäre: Wenn irgendetwas davon an die Öffentlichkeit gedrungen wäre, würden heute noch Dokus im Privatfernsehen laufen, wie die Nasa seinerzeit «Sexbrücken» entwickeln wollte, damit sich die Astronauten auf dem Mond mit ihren Frauen und Freundinnen auf der Erde verlustieren können.
Alles nur erfunden?
Könnte sich diese Geschichte um eine private Fantasie des Autors handeln? Louis Wiznitzer, der Korrespondent, war ein fleissiger Autor, der u.a. auch für die «Schweizer Illustrierte», «Le temps» und das Journal de Genève schrieb. Ich fand keinerlei Berichte, die ihn in die Nähe eines Claas Relotius oder Tom Kummer rücken. Für eine so schwerwiegende Unterstellung bräuchte es unbedingt weitere Nachforschungen. Eine harmlose Erklärung könnte sein, dass die Quelle – «RRI, die wissenschaftlichen Fachzeitschrift» – eine Ente publiziere, auf die Wiznitzer hereinfiel.
Aber nehmen wir an, dass der ganze Betrag erfunden ist: Könnte Wiznitzer in diesem Fall das Verdienst in Anspruch nehmen, der Erfinder des Cybersex zu sein?
Vermutlich nicht, denn gemäss Google Books Ngram Viewer taucht das Wort zum ersten Mal 1964 auf. Trotzdem, Hut ab! Allen Mängeln zum Trotz hatte Wiznitzer einen ausgezeichneten Riecher für ein Ding aus der Zukunft.
Polygamie statt Prostitution und Pornografie
Es bleibt uns an dieser Stelle, die letzten Passagen des Artikels zu geniessen. In der entfaltet der retrofuturistischen Cybersex seine ganze orgastische Gewalt. Brigitte Bardot und Gregory Peck als Sexualpartner für alle von uns! Nebenbei fragen wir uns vielleicht auch, in welcher dunklen Ecke sich diese Computer versteckt haben, die sich schon seit dem Jahr 2000 sexuell vermehren müssten …
Für 1990 prognostizieren Hikari und seine amerikanischen Partner einen Quantensprung im Bereich der Fernsexualität, vergleichbar mit dem vom Radio zum Fernsehen. Der Reisende wird nicht mehr an eine Person, sondern an eine Kassette angeschlossen sein. Diese Kassette wird elektronisch «abgespielt», um die gewählte, erträumte Person auf audiovisuelle und sensorische Weise darzustellen. Zum Beispiel Brigitte Bardot oder Gregory Peck!
Da jeder Mensch in der Lage sein wird, sich eine Diskothek mit Kassetten anzulegen, wird Polygamie wieder salonfähig, während Prostitution und Pornografie ihre Daseinsberechtigung verlieren. Für den Preis einer Schallplatte oder einer Kinokarte kann sich jeder seinen Traumsexpartner suchen, ohne gegen die Sitten zu verstossen oder jemanden zu belästigen. Die Autoren des Projekts sagen: «Lachen Sie nicht, die Zukunft hat gerade erst begonnen. Das Paradies auf Erden ist um die Ecke». Und im Jahr 2000 werden sich die Computer ohne die Hilfe von Menschen vermehren können …
Beitrag: All der Spass, der den Astronauten entgangen ist (Dall-e 3).