Auch wenn der Hochsommer bislang nicht in voller Wucht zugeschlagen hat, gibt es eine neue Folge meiner Sommerserie. In der unterziehe ich Texte einer kritischen Würdigung, die ich vor vielen Jahren geschrieben habe. Es geht um die Frage, wie gut sie gealtert sind.
Besonders interessant sind Artikel, in denen ich mich zu Prognosen verstiegen habe. Da gibt es vielleicht etwas zum Staunen. Oder – wahrscheinlicher – etwas zum Lachen.
Also, wie steht es um meine Prognose zur Zukunft von MP3, die ich am 16. September 2002 von mir gegeben habe?
Die offensichtliche Fehlprognose steckt schon in der Unterzeile. Ich behaupte, dass Microsoft mit seinem Windows Media-Format gute Chancen habe, MP3 abzulösen. Die Begründung war die Marktmacht von Windows. Doch Windows Media ist heute quasi tot.
Zu meiner Verteidigung lässt sich anführen, dass ich schon damals geahnt habe, dass die grosse Verbreitung allein nicht ausreichen würde, diesem MP3-Konkurrenten zum Durchbruch zu verhelfen. Schliesslich hat kein Konsument und keine Konsumentin auf die digitale Fessel des Kopierschutzes gewartet, die bei diesem Format von Haus aus vorgesehen ist.
Fazit: Nobody cares
Die eigentlich spannende Sache an diesem Blick in die Vergangenheit besteht darin, dass die Fragestellung aus dem Artikel aus heutiger Sicht komplett irrelevant ist. Technische Details wie das Audioformat brauchen uns bei Spotify und Apple Music nicht mehr zu kümmern.
Die Ausnahme, die die Regel bestätigen, sind jene Freaks, die noch eine richtige digitale Musiksammlung pflegen. Sie tun das aber hoffentlich in einem verlustfreien, hochauflösenden Format, sodass wir festhalten können: Die Nachfolger von MP3 sind, wenn es sie überhaupt gibt, FLAC und WAV.
Also, wir dürfen erfreut konstatieren, dass ich mich auf höchst effektive Weise selbst widerlegt habe. Und weil das so schön ist, würde ich gern einen Exkurs anhängen:
Als Momentaufnahme spannend
Ich finde, dass der Artikel eine aus heutiger Sicht spannende Momentaufnahme darstellt: 2002 beginnt die Revolution der digitalen Musik. Der iPod ist erfunden, doch noch fehlen einige der entscheidenden Puzzleteile. Der iTunes Music Store von Apple öffnet ein halbes Jahr später.
Dennoch hätte man ahnen müssen, dass nicht das Audioformat entscheidend für den weiteren Verlauf der Entwicklung sein würde, sondern die digitalen Vertriebskanäle: Musiktauschbörsen wie Naspster waren eine Tatsache, die auch mir nicht entgangen war. Nebenbei bemerkt existierte auch in Form von Rhapsody.com bereits ein Angebot, das man mit viel gutem Willen als Vorläufer des Musikstreamings bezeichnen kann. Zitat Wikipedia:
Bereits im Sommer 2002 war der gesamte Bestand der damals fünf grössten Musiklabels (BMG, EMI, Sony Music, Universal Music und Warner) über die Plattform Rhapsody verfügbar, was für die damaligen Verhältnisse eine sensationelle Neuheit darstellte.
In der Schweiz hat es keiner mitgekriegt
Verblüffender- und vielleicht auch peinlicherweise war die Existenz von rhapsody.com nicht nur mir verborgen geblieben, sondern auch der gesamten Schweizer Presse: Ich habe in der Mediendatenbank SMD nur einen einzigen Artikel gefunden, und auch der erwähnt Rhapsody bloss in einem Nebensatz. Im «20 Minutes» vom 20. Oktober 2008 steht die Frage, ob man bei Facebook bald würde Musik hören können: «Facebook würde diese Option mit mehreren Online-Musikseiten untersuchen, darunter rhapsody.com, iMeem.com, iLike.com und lala.com.»
Doch auch ohne das Wissen um Rhapsody wäre die entscheidende Frage gewesen, wie ein legales Angebot den aussehen müsste, damit es Nutzerinnen und Nutzer als echte Alternative wahrnehmen. Auf diese Frage ist mir schon im Mai 2000 eine Antwort eingefallen:
Viele MP3-Freaks sind sich bewusst, dass sie Illegales tun und berechtigte Ansprüche verletzen. Sie machen es dennoch, nicht weil sie ein paar Franken sparen möchten, sondern weil kein gleichwertiges legales Angebot existiert. Gäbe es die Möglichkeit, Musik ebenso flexibel und legal per Internet zu kaufen, ein ganz grosser Anteil der Napster-User würde davon profitieren. Ein offizielles «Music on demand»-Angebot wäre zuverlässiger und schneller als eine wackelige Napster-Verbindung. Und, ganz wichtig: Niemand würde um sein Geld geprellt.
Isn’t it ironic?
Im September 2002 ist absehbar, dass die Musikindustrie nicht in der Lage sein würde, ein legales Angebot auf die Beine zu stellen, das gleichzeitig auch attraktiv und leicht zu benutzen sein würde.
Erwähnt ist im eingangs zitierten Artikel nämlich auch die Musikplattform Popfile.de: Der Musikkonzern Universal versucht dort, seine Songs zu verkaufen. Er setzt auf einen Kopierschutz (DRM), das es anfänglich auch bei Apple gibt. Auf das Hauptproblem weist die «Computerwoche» anlässlich der Einstellung von Popfile Ende 2004 hin:
Dass Popfile kaum eine Chance hatte, liegt nicht zuletzt daran, dass es dort praktisch nur Titel aus dem Universal-Katalog zu kaufen gab.
Elementary, Dr. Watson. Umso verblüffender finde ich es, dass es beim Filmstreaming auf Anbieter-Plattformen hinausläuft: Disney+, Paramount+ und Peacock von NBCUniversal sind die bekanntesten; hier in der Schweiz fällt einem auch Play Suisse von der SRG ein.
Und klar: Solange man bei seinem Streamingdienst ein paar sehenswerte Serien vorfindet, ist das weniger störend, als wenn beim Musikstreaminganbieter zwei Drittel der Lieblingssänger, -musikerinnen und -bands fehlen. Trotzdem halte ich es für ironisch, dass wir bei Film und Serien auf einen Zustand hinsteuern, den wir bei der Musik 2004 hinter uns gelassen haben …
Beitragsbild: Den digitalen Walkman von Sony hatte ich damals nicht und die Platte auch nicht (Oleg Sergeichik, Unsplash-Lizenz).