George Orwells «1984» von hinten und von vorn

Aus­ge­rech­net diesen dysto­pi­schen Roman hat sich Audi­ble aus­ge­sucht, um ein Hör­spiel in einer fu­tu­ris­ti­schen Raum­klang-Atmos­phäre zu pro­du­zie­ren.

Bei Audible gibt es eine neue Hörspiel-Adaption von George Orwells dystopischem Roman 1984. Ihr wisst schon: Leute werden hingerichtet, weil sie sich eines Gedankenverbrechens schuldig gemacht haben. Der grosse Bruder wacht über alle. Und Sprache wird so umdefiniert, dass über heikle Dinge nicht mehr gesprochen und nicht mehr nachgedacht werden kann.

Das allein wäre noch kein Grund, über das Hörspiel zu bloggen. Ich mag zwar Hörspiele, bei Romanen ziehe ich das Original vor – das natürlich auch zur Auswahl steht. Doch in dem Fall hat mich ein technisches Detail bewogen, eine Ausnahme zu machen: Das Hörspiel ist nämlich in Dolby Atmos produziert. Und das werte ich als Anzeichen dafür, dass sich beim Raumklang doch etwas tut. Ganz langsam zwar, aber immerhin.

Wir könnten schon viel weiter sein

Zumindest akustisch gibt es kein Entrinnen.

Wenn ich mir dazu einen kleinen, technischen Exkurs erlauben darf: Lange Zeit war die Stereofonie das Mass der Dinge, weil es auf analogem Weg unverhältnismässig aufwendig ist, mehr als zwei Kanäle auf einen Tonträger zu packen. Digital ist das keine Herausforderung, zumal sich in einer Audiodatei beliebig viele Spuren speichern lassen.

In der Praxis ist es doch nicht so einfach. Das liegt daran, dass Audio auf unterschiedliche Weise konsumiert wird. Bei Mehrkanal-Anlagen gibt es unterschiedliche Lautsprecher-Konfigurationen, aber da viele Leute Kopfhörer verwenden, sollte das Signal auch auf diese Hörsituation angepasst werden. Damit die Audiodateien nicht in unzähligen Mixes ausgeliefert werden muss, kommen beim Dolby Atmos-Verfahren Audio-Objekte zum Zug, die im Raum angeordnet sind und bei der Wiedergabe entsprechend den Anforderungen abgemischt werden.

Das ist technisch beeindruckend und hat das Potenzial, die Immersion zu verbessern – im Fall der Hörspiele bietet es die Chance auf ein Erlebnis, in das wir mit geschlossenen Augen eintauchen können. Ich habe mich darum gefreut, als Apple 2021 einen Anlauf genommen hat, Dolby Atmos auf die Sprünge zu helfen.

Die Marketing-Abteilung hats verbockt

Daraus ist in der Folge leider nicht sehr viel geworden. Ein Jahr später habe ich festgestellt, dass Inhalte in Raumklang im Alltag kaum anzutreffen sind. Der Aufwand, sie sich zu beschaffen und anzuhören, ist grösser als der Gewinn, den sich die meisten Leute davon versprechen. Ich habe damals kritisiert, dass Raumklang als Premium-Feature vermarktet wird, mit dem die Anbieter sich von der Konkurrenz absetzen wollen – statt dass sie dafür sorgen würden, dass es sich auf breiter Basis durchsetzt.

Mit dieser Dolby-Atmos-Produktion von Audible ändert sich das nicht grundlegend. Aber sie sorgt immerhin dafür, dass die neuen Möglichkeiten nicht komplett brachliegen.

Taugt es was? Gibt es mehr davon?

Zwei Fragen stellen sich natürlich: Erstens, wie gut «1984» in Atmos? Und zweitens: Gibt es noch mehr davon?

Der Raumklang-Sound ist subtil, aber wahrnehmbar. Es wäre sicher möglich, ihn markanter einzusetzen. Aber wie wir vom 3D-Kino gelernt haben sollten, steckt in solchen Effekten ein riesiges Ablenkungspotenzial – vor allem, wenn sie knallig und üppig verwendet werden. Eine Produktion muss inhaltlich bestehen; die technisch-formalen Eigenschaften dürfen immer nur das Sahnehäubchen sein.

Das scheint mir bei «1984» gelungen. Wie gut die Umsetzung ist, kann ich nicht abschliessend beurteilen, da ich, wie eingangs erwähnt, die Romanfassung nicht präsent habe. Die Darbietung habe ich als eindrücklich erlebt und ich hätte gern mehr davon.

Und ja, es gibt bei Audible mit Hunting Game einen Krimi und noch einige weitere Titel. Im deutschsprachigen Audibe-Angebot habe ich zwar eine Hilfeseite zum Thema, aber keine entsprechenden Titel gefunden. Dazu ist folgende Anfrage auf Twitter hängig:

So schlimm wie im Hörspiel ist es nicht

PS: Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass «1984» einer der Titel ist, die in einer so futuristischen Technologie dargeboten werden. Damit will ich natürlich nicht behaupten, dass wir in einer Dystopie leben würden, so, wie er sie beschrieben hat. Da bin ich mir übrigens mit ChatGPT einig, der zwar einige Parallelen sieht (Überwachung, Desinformation und Propaganda und die Einschränkung der Freiheiten, wie sie in manchen Ländern verhängt werden), aber auch auf die Unterschiede hinweist:

Länder haben starke gesetzliche Rahmenbedingungen und Kontrollmechanismen, die den Schutz der Privatsphäre und Grundfreiheiten gewährleisten. Zudem gibt es in vielen Teilen der Welt eine lebhafte öffentliche Debatte und kritische Medien, die eine wichtige Rolle bei der Bewahrung der demokratischen Strukturen spielen.

Beitragsbild: Zum Glück nicht! (Markus Spiske, Pexels-Lizenz)

Kommentar verfassen