Beitragsbild: Der Zuse Z4-Computer, fotografiert im deutschen Museum (Dasbloeckendeschaf, CC BY-SA 3.0 Deed).
Wann haben die Schweizer Medien zum ersten Mal über ein technisches Phänomen berichtet? Zu dieser Frage grabe ich gelegentlich in den Zeitungsarchiven. Normalerweise will ich wissen, ob und allenfalls wie die Medien über eine konkrete Neuerung berichtet haben und verwende für meine Suche einen Produktnamen (Apple Macintosh), eine Produktkategorie (Heimcomputer) oder ein Anwendungsgebiet (DTP).
Aber was passiert, wenn ich einen vagen, metaphorischen und sogar etwas mythisch angehauchten Begriff verwende? Ich mache die Probe aufs Exempel mit dem Elektronenhirn oder -gehirn. Wikipedia behauptet, das sei ein Synonym für den Röhrencomputer. Das erweist sich schnell als falsch: Der Begriff taucht auch heute noch auf. Die NZZ hat ihn neulich ganz unironisch in einem Bericht verwendet, in dem es um die Verbindung von KI und Robotik geht.
Das Gehirn als grosses Vorbild
Aber klar: Die Rechner der ersten Generation waren Röhrencomputer, und damals wurde auch dieser Begriff geprägt. Als diese neuen Maschinen aufkam, war «Computer» als Wort den meisten Menschen nicht geläufig. Als Anglizismus wirkte es abschreckend. Deswegen entstand die Idee, ein deutsches Wort zu prägen, das die Erklärung gleich mitliefert. Konrad Zuse, der Vater des Computers, hat in seinem Tagebuch selbst davon geschrieben, ein «mechanisches Gehirn bauen» zu wollen.
Die bildliche Bezeichnung war gut gemeint, aber natürlich problematisch: Sie vermenschlicht dieses Gerät auf eine eigentlich unzulässige Weise, und sie impliziert, die Maschinen würden so funktionieren wie wir selbst. Das ist erwiesenermassen nicht der Fall.
Die Karriere dieses Worts ist in Googles Ngram-Viewer auf eindrückliche Weise ersichtlich: 1945 tauchte es zum ersten Mal auf, zusammen mit den weiteren Computermodellen Konrad Zuses. 1962 erreicht es sein Allzeit-Hoch. Danach nimmt die Verwendung ab, während die Verwendung des Worts «Computer» noch jahrzehntelang zunimmt. Wir dürfen annehmen, dass es im Alltagswortschatz angekommen ist.
Elektronengehirne, die Maschinen leiten
Aber zu den Anfängen in der Schweiz: In der NZZ taucht das Elektronengehirn zum ersten Mal am 23. August 1951 auf, in einer Ankündigung der aktuellen Wochenschauen. Der erste journalistische Bericht findet sich am 22. April 1955 in einem Bericht der «Weltwoche», «Amerika ist voll Vertrauen». Geschrieben hat der Beitrag der damalige Chefredaktor Lorenz Stucki, der dafür offenbar durchs halbe Land getingelt ist. Stucki beschreibt ein aufstrebendes, optimistisches Land und geheimnisvolle, wundersame Technik:
Es werden mehr Autos, Kühlschränke, Fernsehapparate usw. gekauft als je, in vielen Städten werden gewaltige Modernisierungsprogramme an die Hand genommen, neue Autobahnen gebaut, neue Industrien gegründet, und bereits hat die sogenannte zweite industrielle Revolution eingesetzt, die «Automation» – komplizierte Supermaschinen und Elektronengehirne leiten und kontrollieren die Maschinen –, welche nochmals erhöhte Produktion und geringere Kosten und Preise verspricht.
Damit ist das Thema aber bereits durch und Stucki beim zweiten Grund für die Prosperität angelangt; bei Präsident Eisenhower.
Ein völlig normales Wort
Es fällt auf, dass in dieser Zeit das Elektronengehirn oft alleinstehend benutzt wird, ohne vom Computer begleitet zu werden. Ein, zweimal habe ich es in Anführungszeichen gesehen, doch meistens wird als normale Bezeichnung verwendet: ohne Erklärung und ohne Verweis auf ihre metaphorische Natur.
Die Pionierin in dieser Sache war weder die NZZ noch die «Weltwoche», sondern die Migros-Zeitung «Die Tat». Sie griff als erstes Medium eine Agenturmeldung von Reuters auf und rührte die zusammen mit anderen Meldungen unter dem Titel Zwischen gestern und morgen zu einem düsteren News-Potpurri zusammen.
Der Onkel des Prinzgemahls hatte was mit Computern
Den Originalbeitrag erschien am 4. November 1946 noch in Frakturschrift in der «Berner Tagwacht» unter Titel «Elektronengehirn und Gedächtnismaschine». Er drehte sich um ein Bankett des britischen Radioinstituts, an dem der Präsident, Lord Louis Mountbatten, über die neuesten Erfolge und Entdeckungen referiert hatte. Und auch in diesem Bericht taucht der Computer kein einziges Mal auf (der «Computor» allerdings schon):
Von grösster Bedeutung sei die Entwicklung eines «Elektronengehirns» und einer «Gedächtnismaschine», welche die geistigen Fähigkeiten des Menschen in unvorstellbarem Ausmass erhöhen würden. Das Elektronengehirn solle die Kapazität des menschlichen Gehirns bedeutend vergrössern; es würde zu diesem Zwecke Funktionen ausüben, welche den Funktionen der halb automatisch arbeitenden Zellen des menschlichen Gehirns entsprechen. Im Elektronengehirn würden die Gehirnzellen durch Radiolampen ersetzt werden. Mit Hilfe des «Eniac» (Electronic Numeral Integrator and Computor) würde man zum Beispiel ausserordentlich komplizierte mathematische Probleme in kürzester Zeit lösen können. Die Berechnung der Flugbahn eines Geschosses, welche normalerweise eine Zeit von zehn Tagen brauche, würde man in vier Sekunden vornehmen können. (…)
Maschinen, die bereits erfunden seien und verwendet würden, könnten sogar in gewissem Ausmass das menschliche Gedächtnis ersetzen und ergänzen. Eine solche Maschine könne zum Beispiel auch Schach spielen. Mit Hilfe der «Gedächtnismaschine» würde man in Zukunft alle tenischen Nachschlagswerke und ganze Bibliotheken abschaffenen können; eine Maschine in der Grösse eines Schreibtisches werde ganze Bücherschränke mit Hunderten und Tausenden von Büchern ersetzen. Diese Maschine werde eine solche Unmenge von Informationen aufspeichern, dass es Hunderte von Jahren brauchen würde, um diese Informationen auf eine andere bisher übliche Art niederzuschreiben.
Drei Erkenntnisse und ein Nachtrag: Erstens war der Onkel von Prinz Philip technisch versierter, als ich es geahnt habe.
Zweitens ist die futuristische Zeit, die damals beschrieben worden ist, heute noch viel toller. Und drittens haben wir unfassbar mehr Informationen griffbereit, als in Bücherschränken mit Hunderten und Tausenden von Büchern passen würden. Und diese ist Maschine nicht so gross wie ein Schreibtisch, sondern so kompakt, dass sie in unsere Hosentasche passt.
Warum immer gleich alles dystopisch sehen?
Also, zurück zu «Die Tat» und zum Nachtrag. Das Migros-Blatt schafft es, dieser schönen Meldung einen pessimistischen, kulturkritischen Drall zu geben:
Mit Hilfe der Gedächtnismaschine könne man alle technischen Nachschlagewerke und ganze Bibliotheken abschaffen, und Tausende von Büchern seien überflüssig … ein Glück wird dieses schreibtischgrosse Ding vielleicht mit sich bringen: Es wird dem Menschen die Zeit verschaffen, die er braucht, um über sich selbst ins klare zu kommen – falls er bis dahin nicht selbst zu dieser Maschine geworden ist!