Uff, was für ein Höllenritt! Beim neuen Thriller von Marc Elsberg schwanken nicht nur die klimatischen Verhältnisse zwischen Wüste und Antarktis. Auch die Gemütsverfassung durchläuft diverse Kipppunkte – aus Hoffnung wird Verzweiflung und umgekehrt.
Das Buch heisst °C – Celsius und beschäftigt sich mit dem Klimawandel. Elsberg hat ein Händchen für aktuelle Themen. Das hat er eindrücklich mit Blackout bewiesen, seiner Dystopie über grossflächige Stromausfälle, die als Serie justament dann ins Fernsehen und Netz kam, als wir es mit der Strommangellage zu tun hatten. Sein Buch Der Fall des Präsidenten hat dieses Jahr ebenfalls einen neuen Aktualitätsbezug erhalten, wenngleich der Internationale Strafgerichtshof nicht gegen den US-amerikanischen, sondern gegen den russischen Präsidenten Haftbefehl erlassen hat.
Die Chinesen sind plötzlich die Guten?
Auch in diesem Fall wurzelt das Buch in der Realität, doch die künstlerischen Freiheiten, die sich der Autor genommen hat, stechen sofort heraus. Sie sind schon auf dem Klappentext ersichtlich: Dort wird verraten, dass China Drohnen losschickt, um die Gefahr durch die Klimaveränderung anzugehen. Wir erfahren, dass die Chinesen sich mit Geo-Engineering versuchen. Sie wollen mittels Chemikalien die Sonneneinstrahlung verringern. Das nennt sich «grosser Sonnenschirm» und wäre vielleicht eine gute Idee – wenn dieses Projekt nicht ohne jegliche Absprache mit der internationalen Gemeinschaft und mit keinerlei Vorankündigung auf die Welt losgelassen worden wäre.
Also, das Buch wirft uns gleich zu Beginn in einen Konflikt zwischen China und dem Rest der Welt, der kriegerische Aktivitäten vermutet – und wir müssen uns auch sogleich mit den künstlerischen Freiheiten des Autors auseinandersetzen, indem wir uns fragen: Wie glaubwürdig ist es, dass die Chinesen so viel Engagement zeigen, wo wir in Realität wenig Engagement wahrnehmen? Aber ja: Die Wirklichkeit ist kompliziert, und darum bin ich gewillt, dem Autor auf diesem Pfad zu folgen.
Zu heiss? Zu kalt?
Und, wie angedeutet: Das Buch verlangt uns Lesern noch einiges mehr ab als diese Ausgangslage. Ohne zu viel zu verraten, spielt es mehrere Szenarien durch, wie sich der Klimawandel entwickeln könnte – und zwar auf eine nicht eben lineare Weise. Wie ich anhand einiger Rezensionen auf Amazon sehen konnte, haben das nicht alle Leserinnen und Leser goutiert. Verständlich, denn typischerweise ist ein Thriller, der zu Unterhaltungszwecken gelesen wird, einfacher gestrickt. Aber meines Erachtens braucht ein so grosses Thema wie diese fundamentale Bedrohung für uns Menschen auch das grosse erzählerische Besteck.
Ich finde diesen Aspekt gelungen: Mir gefällt auch, dass der Autor sich dem Thema differenziert nähert und nicht bloss als Aufhänger für unverbindliche Action dient. Er zeigt beispielsweise sofort auf, wie ein vielversprechendes Geo-Engineering-Projekt à la «Grosser Sonnenschirm» dazu führen könnte, dass die Menschen sich nicht mehr bemüssigt fühlen, ihr Verhalten zu ändern und aktiv, jeder für sich, CO₂ zu sparen.
Der sichere Himmel ist nicht für alle sicher
Zu dieser differenzierten Betrachtungsweise gehört auch, dass sich Elsberg überlegt, wie sich manche Nationen bemüssigt fühlen könnten, den Klimawandel als Chance zu verstehen. Ohne zu viel zu spoilern: Ein Szenario beschäftigt sich mit einer grossen Nation (Russland), die in Versuchung gerät, eine unwirtliche Region ihres Territoriums (Sibirien) durch den Klimawandel in eine lebensfreundliche, prosperierende Zone zu verwandeln. Doch das Haupt-Szenario geht in die andere Richtung: Wie wäre es, mittels Geo-Engineering die Erwärmung nicht bloss zu verhindern, sondern die Welt klimatologisch neu zu ordnen? Das Stichwort dazu im Buch: Safe Heaven.
Also: Der politische Aspekt in diesem Polit-Thriller, der sich nicht zwischen zwei globalen Kontrahenten, sondern zwischen vier Blöcken abspielt, ist ein Pluspunkt des Buchs. Eine der stärksten Passagen ist die, als sich einige aus unseren Reihen – also verwöhnte Europäer – als Klimaflüchtlinge mit wackeligen Kähnen übers Mittelmeer auf die Reise begeben müssen, weil es … aber das wird an dieser Stelle nicht verraten. Einwandfrei ist des Weiteren die aktuelle Komponente und die Wissenschaft, auch wenn der Autor sich in diesem Feld grosse Freiheiten genommen hat, wie er im Nachwort einräumt. Aber das ist so glaubhaft, wie es bei so einem Thriller sein muss. Kurz: Es ist das Buch geworden, das Dirk Rossmann mit Der neunte Arm des Oktopus hatte schreiben wollen.
Alle sind bloss Zaungäste
«°C – Celsius» hat auch eine grosse Schwachstelle. Und das sind die Akteure. Es besteht eigentlich nur aus Nebenfiguren, die punktuell eine Rolle für die Ereignisse spielen und uns helfen, die Ereignisse aus einer persönlichen Warte zu verfolgen. Doch die Handlung vermag keiner von ihnen massgeblich zu beeinflussen. Und natürlich: Das entspricht den echten Grössenverhältnissen, denn bei einem Phänomen wie dem Klimawandel, das den Lauf der Menschheitsgeschichte bestimmt, sind auch der US-Präsident und der deutsche Kanzler nicht viel mehr als Zaungäste.
Trotzdem erschwert das die Identifikation für uns Leserinnen. Das hätte sich vielleicht anders lösen lassen – durch eine andere Erzählperspektive beispielsweise, bei der wir die Geschichte nicht durch eine typische Thriller-Perspektive erfahren hätten, bei der in schneller Folge von Schauplatz zu Schauplatz geschnitten wird. Sondern durch einen Ich-Erzähler, mit dem wir diese Achterbahnfahrt unternehmen. Denn eigentlich macht Elsberg bei den Figuren alles richtig: Er hat ein modernes Aufgebot an Figuren, die bezüglich Diversität und Multikulti nichts zu wünschen übrig lassen.
Apropos Schwachstelle: Das Hörbuch hat eine zusätzliche Schwachstelle, nämlich den Erzähler Dietmar Wunder. Nicht, dass der nicht lesen könnte – aber er rezitiert das Buch auf eine Art und Weise, die meine Nerven arg strapaziert hat. Er neigt dazu, die Endsilben eines Satzes zu betonen, und zwar auf eine gepresste, gedehnte Weise, die wohl herb-männlich klingen und die Spannung befeuern sollte, die bei einer fast 14-stündigen Lesung aber einfach nur ermüdet – abgesehen davon, dass sie fürchterlich auf die Stimmbänder gehen muss. Also, das nächste Mal gern ohne diese überkandidelte Sprechhaltung!
Beitragsbild: Es gibt auch noch andere Szenarien (Pixabay, Pexels-Lizenz).