Jim Knopf und dieses verflixte N-Wort

Bei der Gute­nacht­geschichte für meiner Tochter ist mir eine Twitter-Forderung, das N-Wort zu streichen, eingefal­len. Doch was tun, wenn sich Stereo­type nicht nur in bestimmten Worten äussern, sondern tiefer gehen? Müssen die Bücher gänzlich um­ge­schrie­ben werden?

Neulich hatte ich eine endlose Diskussion auf Twitter zu Dürrenmatt und dessen Verwendung des N-Worts im Theaterstück «Die Physiker». Und neulich habe ich meiner Tochter Michael Endes Buch Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (Amazon) und Jim Knopf und die Wilde 13 erzählt.

Diese beiden Ereignisse stehen in einem Zusammenhang. Denn das N-Wort kommt auch im ersten Teil von Michael Endes Dilogie vor – ein einziges Mal, wenn ich mich recht erinnere. Die Diskussion auf Twitter bezog sich auf Philippe Wampflers Forderung, die auch medial ein gewisses Echo ausgelöst¹ hat, das Wort zu streichen, bzw. nicht auszuschreiben. Wampfler ist Lehrer, und er möchte den Wunsch von Schülerinnen und Schüler mit schwarzer Hautfarbe erfüllen, die nicht mit dem Wort konfrontiert werden wollen.

Nun könnte der Eindruck entstehen, dass gerade Jim Knopf beweist, wie leicht sich Philippe Wampflers Appell umsetzen lässt: Eine Textstelle im Buch abzuändern, wäre keine grossartige Sache. Nur eben – ist damit das Problem gelöst?

Cringeworthy!

Würde das Buch heute geschrieben, sähe auch das Cover anders aus.

Beim Vorlesen des Buchs haben sich bei mir die Nackenhaare auch bei anderen Passagen aufgestellt. Die Beschreibung des Chinesischen Kaisers und seines Volkes ist aus heutiger Sicht grenzwertig². Cringe fand ich auch den Umgang von Lukas mit der Meeresprinzessin Sursulapitschi, die der Lokomotivführer konstant mit «meine kleine Dame» anspricht – dabei ist sie eine durchaus taffe Meeresbewohnerin, die sich zu helfen weiss.

Die Darstellung der klugen chinesischen Prinzessin Li Si ist genauso wenig zeitgemäss: Sie ist vor allem dazu da, Jim zu bewundern. Sie hat zwar einen eigenen Willen und es geschafft, während der Gefangenschaft bei Frau Mahlzahn ein Lebenszeichen zu senden. Doch im zweiten Teil schleicht sie sich gegen den Willen ihres Vaters an Bord des kaiserlichen Staatsschiffs, um gegen die Wilde 13 in den Kampf zu ziehen, nur um dann Angst vor ihrem eigenen Mut zu bekommen und sich unter Deck zu verstecken.

Auch die Illustrationen: völlig daneben

Schliesslich sind da auch die Illustrationen von Franz Josef Tripp: So liebevoll sie sind, nach aktueller Auffassung sind die wulstigen Lippen ein rassistisches Klischee, das einfach nicht mehr drin liegt.

Mit anderen Worten: Wenn die Geschichte so bearbeitet werden soll, dass sie nicht mehr diskriminierend wirkt, dann ist mit der Streichung eines einzelnen Worts nichts gewonnen. Es braucht neue Zeichnungen. Lukas’ Textzeilen müssten überarbeitet und die Handlung wäre so anzupassen, dass Li Si beim Kampf gegen die Piraten eine Heldentat vollbringt. Dann würde die Botschaft der Geschichte nämlich nicht lauten, dass sie besser auf ihren Vater gehört hätte. Stattdessen würden wir erfahren, dass auch Mädchen Triumphe vollbringen. Beispielsweise könnte Li Si den kleinen Oberbonzen Ping Pong retten, der ebenfalls auf dem Schiff mit dabei war, und der sich im Original selbst in Sicherheit gebracht hat.

Oder aber: Wir lassen die Geschichte, wie sie ist, und zwar bis aufs letzte Komma – und ändern auch das N-Wort nicht.

Eine Geschichte von Toleranz und Grossmut

Und das ist es, wofür ich plädiere. Mich hat diese Geschichte genauso in den Bann geschlagen wie vor mehr als vierzig Jahren, als ich sie zum ersten Mal gehört habe – als meine Mutter sie mir erzählt hat. Es ist eine Geschichte von Toleranz und Menschlichkeit: Jim und Lukas entscheiden sich zweimal, seine besiegten Gegner nicht ihrer verdienten Strafe zuzuführen, sondern sie lassen Grossmut walten.

Es ist dieser Grosszügigkeit, der die weiteren Ereignisse und das glückliche Ende ermöglicht. Jim und Lukas als schwarz-weisses Freundespaar befreien Kinder aus aller Welt aus den Klauen des bösen Drachens Mahlzahn. Zu den Geretteten zählen auch ein Inuit und ein amerikanischer Ureinwohner. Sie werden beide mit den damals gebräuchlichen Begriffen bezeichnet, die heute nicht mehr opportun sind. Dennoch werden sie alle als gleichberechtigt und ebenbürtig dargestellt.

Klar – der Einwand an dieser Stelle liegt auf der Hand: Philippe Wampfler hat nicht gefordert, Geschichten umzuschreiben, sondern nur das N-Wort zu streichen: Das ist keine schwierige Änderung, sondern eine Sache, die sich bequem per Suchen-Ersetzen erledigen lässt. Ich habe die weiteren problematischen Aspekte angesprochen, weil die zeigen, dass es mit der Abänderung einzelner Worte meist nicht getan ist. Aber wo ziehen wir die Grenze dann?

Wir geraten unweigerlich in Teufels Küche, wenn wir es als akzeptabel erachten, Bücher aus den vorherigen Generationen gemäss unseren Sensibilitäten zu redigieren. Denn es ist klar: Jim Knopf, bei dem all die erwähnten «Problemzonen» beseitigt sind, wäre nicht mehr Michael Endes Buch, sondern eine Fälschung.

Unsere Generation ist auch nicht das Mass aller Dinge

Und das geht nicht: Wir können die Vergangenheit nicht anpassen, damit sie unseren Massstäben gerecht wird. Denn erstens lässt sich die Vergangenheit nicht mehr ändern – wir können nur deren Zeugnisse verändern; doch wenn wir das tun, setzen wir uns dem Verdacht der Geschichtsklitterung aus. Und zweitens glaube ich nicht, dass sich andere Zeitabschnitte überhaupt verstehen lassen, wenn wir sie aus heutiger Sicht und mit unseren Wertmassstäben beurteilen. Wir müssen unseren Vorfahren zugestehen, dass sie ihre eigenen Auffassungen und Überzeugungen hatten und versuchen, die zu verstehen.

Das ist nach meiner Ansicht die oberste Aufgabe der Schule. Es ist als zweitwichtigste Aufgabe auch von Bedeutung, dass Lehrerinnen und Lehrer sich Mühe geben, Verletzungen zu vermeiden. Sie können das tun, indem sie auf Sensibilitäten individuell Rücksicht nehmen; vielleicht im Sinn einer Triggerwarnung. Aber darüber hinaus ist es wichtig festzuhalten, dass über Diskriminierungen zu berichten, keine Diskriminierung ist, selbst wenn dabei Diskriminierungen benannt und reproduziert werden.

Feel the pain!

Und ja, lassen wir es zu, dass uns dieses N-Wort inzwischen selbst wahnsinnig unangenehm ist, wenn wir es ungeschwärzt und ausgeschrieben vor uns sehen – oder vielleicht sogar laut vorlesen müssen³. Das lässt sich auch als Zeichen deuten, wie sehr wir unser Sprachgefühl in dieser Hinsicht geschärft haben. Denn in meiner Jugend war dieses Wort noch völlig normal. Ich habe neulich auch darüber geschrieben, wie ich bezüglich Sexismus dazugelernt habe. Das ist ein Fortschritt – auch wenn er altes Unrecht nicht aus der Welt schafft.

Fussnoten

1) Bei der Tamedia, 20 Minuten, Beim Tagblatt und Der Weltwoche.

2) Michael Ende hat sich selbst daran gestört, weswegen in Neuauflagen nicht mehr von China, sondern von «Mandala» die Rede ist. Dazu habe ich den Artikel Die Rückkehr der Frau Mahlzahn der FAZ gefunden, in dem es Folgendes heisst:

Tatsächlich wetterte zum Beispiel 1972 der Publizist Otto F. Gmelin in seiner Polemik «Böses kommt aus Kinderbüchern»: «Endes ‹Jim Knopf›: eine Geschichte voll monströser Geschichtsklitterung, die überall und vor allem in einem kaiserlichen China spielt, als sei dies ein Land ohne historische Probleme. Bücher dieser Kategorie sind nichts anderes als der verramschte Kolonialismus unserer Großväter. Ihre Schauerlichkeit ist bestenfalls mit der China-Berichterstattung der bürgerlichen Presse vergleichbar. Es ist zu hoffen, dass diese publizistischen Erscheinungen dem Druck weltpolitischer Ereignisse vollends weichen.»

Das ganze Buch musste zwar nicht weichen, wohl aber der China-Bezug. Dabei sei es Michael Ende nur um eine exotische, phantasievolle Kulisse gegangen, sagt Hocke, nicht um das wirkliche China. «Das kannte er gar nicht. Ich glaube nicht, dass er jemals da war, jedenfalls nicht als Dreissigjähriger, als er ‹Jim Knopf› schrieb und nicht einmal seine Miete zahlen konnte.»

3) Ich habe in der Tat beim Vorlesen das N-Wort vermieden, weil meine Tochter es bislang nicht kennt und die Gutenachtgeschichte nicht der richtige Moment ist, es zu thematisieren. Bei den Inuit und amerikanischen Ureinwohnern hatten wir die Diskussion schon, und darum habe ich ihr erklärt, dass ich hier die heute gebräuchlichen Worte verwende, statt der, die im Buch gedruckt stehen. Das sollen Eltern handhaben, wie sie es für richtig halten – genauso, wie Lehrerinnen und Lehrer auf Schülerinnen und Schüler individuell eingehen.

Auch Philippe Wampfler fordert im Kern nur, dass die Schulen eine entsprechende Edition zur Verfügung haben. Das ist im allgemeinen Getöse untergegangen – oder vielleicht auch bewusst verschwiegen worden. Jedenfalls liesse sich eine solche Edition mittels Edding selbst herstellen.

Und es, nebenbei bemerkt, halte ich es für absolut kein Problem, wenn alte Süssigkeiten heute unter einem neuen Namen wie «Schokokuss» verkauft werden.

4) Die Diskussion auf Twitter war an Philippe Wampflers Behauptung entbrannt, das N-Wort sei schon immer rassistisch gewesen. Meine persönliche Erinnerung ist dezidiert anders: Das Wort wurde gemäss meiner Erinnerung in meiner Kindheit neutral verwendet. Es gibt meines Erachtens genügend Beispiele, die belegen, dass es auch anderen so ging. Zu diesen Belegen zählt Jim Knopf. Denn wie die «Deutsche Welle» hier ausführt, ist das Buch und insbesondere die Figur des Halbdrachens Nepomuk eine klare Absage an die Rassentheorie der Nazis.

Wampfler stellt das so dar, dass man rassistische Sprache verwenden könne, ohne Rassist zu sein. Ich halte das für einen grossen und gefährlichen Unsinn: Denn meine Überzeugung ist es, dass man Rassisten an ihrer Sprache erkennt und auf das behaften muss, was sie sagen. Wenn nun aber rassistische Sprache kein Anzeichen dafür ist, dass jemand rassistisch ist, dann ist das eine Art Blanko-Ausrede für jeden, der nur dreist genug ist, zu behaupten, er hätte es nicht besser gewusst.

Ich glaube, Wampflers Interpretation geht davon aus, dass es eine absolute Definition gibt, was rassistisch ist und was nicht. Ich glaube das nicht, sondern bin überzeugt, dass das Sprachverständnis über die Zeit verändert und wir nicht das Recht haben, unsere Ansichten zu verabsolutieren. Und nicht nur das Sprachgefühl: Auch unser Umgang mit Minderheiten und schutzbedürftigen Gruppen.

Oder anders gesagt: Ich glaube nicht, dass die Menschen früher weniger Herz hatten, weil sie das N-Wort ohne Skrupel benutzt oder Frauen die Rolle der passiven Anhimmlerinnen zugewiesen haben. Wir alle sind Kinder des Zeitgeistes, unseres Umfelds und der Einflüsse, die uns positiv und negativ prägen. Wenn wir heute Diskriminierungen besser erkennen, dann, weil wir die Chance hatten, dass das zu einem gesellschaftlichen Thema geworden ist, zu dem wir kluge Dinge gehört und intensiv diskutiert und gestritten haben. Es wirkt auf mich überheblich, wenn wir aus dieser Sicht über Leute urteilen, die mit ganz anderen Generationsfragen konfrontiert waren und Prioritäten anders setzen wollten oder mussten. Das empfinde ich als Diskriminierung.

Es steht für mich ausser Frage, dass «Jim Knopf» ein in vielen Aspekten anderes – und wahrscheinlich total «wokes» Buch wäre, wenn Michael Ende es heute schreiben würde. Er hat es aber nicht heute geschrieben und es steht uns nicht zu, ihm zu diktieren, wie er es hätte tun sollen.

Beitragsbild: Das kann man streichen (Tima Miroshnichenko, Pexels-Lizenz).

8 Kommentare zu «Jim Knopf und dieses verflixte N-Wort»

  1. Nimm einen großen Topf: dann fülle da hinein das N-, Z-, C- sowie B-Wort, dazu auch den ganzen Genderquatsch. Verschließen diesen Topf und versenke ihn an der tiefsten Stelle des Meeres. Alle, diese sich betroffen fühlen können nun dorthin schippern und nach Lust und Laune nach diesem Topf tauchen. Dann ist endlich wieder Ruhe im Karton.

    1. Schiet Keyboard!
      „Verschließe diesen Topf und versenke ihn an der tiefsten Stelle des Meeres. Alle, die sich betroffen fühlen, können nun dorthin schippern und nach Lust und Laune nach diesem Topf tauchen. Dann ist endlich wieder Ruhe im Karton.“
      So sollte es heißen.

    2. Ich habe mich durchs Latinum gekämpft und erkenne das Wort wieder. Ich akzeptiere die Bedeutungsverschiebung – aber wir sollten die historischen Wurzeln tatsächlich nicht ausser Acht lassen.

      1. Dass Du lateinisch kannst, ist mir schon klar 🙂 Aber viele wissen eben nicht, dass das N-Wort ganz einfach „schwarz“ heisst… Ganz ähnlich mit dem Namen Mauritius und seinen Derivaten. Die ganze Aufregung geschieht eigentlich am falschen Objekt.

  2. Ich bin auch klar gegen solche Änderungen – aber auch dafür, dass wir als Eltern unsere Verantwortung wahrnehmen. Wie du bei Jim Knopf habe ich, als ich unseren Kindern Pippi Langstrumpf vorgelesen habe, konsequent von „Inselkönig“ und „Inselkindern“ gesprochen. Und ihnen dann bei Gelegenheit mal erklärt, dass es im Buch eigentlich anders geschrieben steht, weshalb das so ist – und weshalb ich es bewusst anders vorlese.

  3. Ich bin immer vorsichtig, wenn mit dem „Zeitgeist“ argumentiert wird. Denn was man darunter versteht, hat sich aus meiner Sicht seit Aufkommen des Internets verändert. Früher war der Zeitgeist der gesellschaftliche Konsens. Dass Männer Hüte tragen und dass man sonntags in die Kirche geht. Getragen wurde er von fast der gesamten Gesellschaft und hat sich nur langsam verändert.

    Heute scheint man unter dem Zeitgeist die Vorstellungen der jeweils am lautesten Twitterer zu verstehen. Deren Ansichten werden sicher von der jeweiligen Blase getragen, aber nicht zwingend von der gesamten Gesellschaft. Ein schönes Beispiel dafür ist das in den letzten Jahren aufgekommene Gendern. Für urbane Journalisten ein Muss, aber gemäss Umfragen für das normale Volk unnötig bis lästig.

    Besonders Mühe habe ich, wenn aus moderner Warte alte Werke kritisiert werden oder deren Umschreibung gefordert wird. So, wie wir jetzt überzeugt sind, die „richtige“ Einstellung zu haben, so waren unsere Vorfahren genauso überzeugt. Und unsere Nachfahren werden ebenso von ihrer Einstellung überzeugt sein und uns vielleicht verurteilen für das Absagen von Konzerten wegen Rastas auf dem falschen Kopf.

    Womit ich nicht sagen will, dass früher alles in Ordnung war. Ich kann mir nicht vorstellen, wie Leute, zumal noch christlichen Glaubens, jemals Sachen wie Sklaverei vor ihrem Spiegelbild rechtfertigen konnten.

    Ich versuche, Werke und Personen mit einer Portion Gelassenheit zu betrachten und, ganz wichtig, zwischen Werk und Ansichten zu unterscheiden. Winnetou darf gerne im Fernseher laufen, aber trotzdem bin ich dafür, dass man den Ureinwohnern geraubte Gegenstände aus unseren Museen zurückgibt. Ich bewundere Louis Favre für seine Ingenieurskunst und seinen Mut, aber verurteile zugleich seinen menschenverachtenden Umgang mit den Arbeitern. Ich höre Wagner, auch wenn ich dessen Antisemitismus verabscheue.

  4. Danke für deinen genauen Text und deine Hartnäckigkeit, schön, dass wir diese Differenzen sachlich besprechen können. Zu rassistischer Sprache und Rassist*innen vielleicht eine Präzisierung: Viele Menschen handeln ab und zu rassistisch, auch ich. Wir tun das, wenn etwas, was wir tun, als rassistisch empfunden wird. Rassist*innen tun das aber absichtlich, wir nicht. Wenn etwas, was ich tue, als rassistisch empfunden wird, versuche ich das fortan zu vermeiden. Rassist*innen nicht. So meine ich das.

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