Podcast-Rückhalt für den Drachenlord

Cybermobbing, Schikanen, ein jahrelanges Martyrium, nur weil einer auf Youtube nicht dem Idealbild der Allgemeinheit entspricht? Die neue Staffel «Cui Bono» widmet sich dem «Drachengame», das so gar nichts Spielerisches hat.

Der Podcast Cui Bono (RSS, iTunes, Spotify) hat mir 2022 das grösste Aha-Erlebnis zur digitalen Sphäre beschert. Er hat ein Thema aufgebracht, das mir zwar nicht völlig fremd war, das ich in seinem Ausmass bislang aber nicht erfasst habe. Der Podcast hat in der zweiten Staffel den Untertitel «Wer hat Angst vorm Drachenlord?» und beschäftigt sich mit Rainer Winkler.

Dieser Mann hat unter dem Pseudonym Drachenlord eine Youtube-Karriere gestartet, die auf eine ganz und gar bemerkenswerte Weise immer weiter aus der Bahn geraten ist. Rainer Winkler, hat über seinen Youtube-Kanal auf eine etwas unbedarfte, aber authentische Art aus seinem Leben erzählt – also, genauso, wie es viele andere auch tun. Mit einem Unterschied: Er ist nicht gutaussehend, charmant und auch nicht sonderlich eloquent, sondern, wie er selbst sagt, Sonderschüler, übergewichtig und ein Anti-Held. Er hat beim Beginn seiner Karriere ein paar hundert Zuschauer. Das werden allerdings schnell mehr, als sich Leute auf ihn einschiessen, die sich auch in der Selbstbezeichnung «Haider» nennen. Gemeint ist eigentlich Hater, also ein von Hass getriebener; die Variante ist entstanden, weil Rainer Winkler breites Fränkisch spricht und das sich auch bei seiner Aussprache englischer Wörter bemerkbar macht.

«Haider»: Haben die nichts Besseres zu tun?

«Broadcast yourself.»

Die «Haider», das sind gewissermassen Anti-Fans. Sie schauen sich seine Sendungen an, um sich über ihn lustig zu machen, ihn runterzuputzen, despektierliche Kommentare zu schreiben und ihm das Leben schwer zu machen.

Dieses Mobbing schwappt bald aus dem digitalen Bereich ins richtige Leben über. Die «Hater» tauchen vor seinem Haus auf, provozieren ihn, stellen ihn bloss, machen ihn in seiner Heimatgemeinde unmöglich und sind vom Ziel beseelt, ihn aus dem Internet zu entfernen. Weil, nach ihrer Ansicht, so jemand wie er kein Recht hat, im Internet zu sein.

Der Podcast zeichnet nach, wie sich dieser Konflikt – der euphemistisch als «Drachengame» bezeichnet wird – immer weiter aufschaukelt. Irgendwann ist das Ziel nicht mehr, Winkler von Youtube zu vertreiben. Nein, er soll im Gefängnis oder in der Psychiatrie verschwinden – und zwar einfach deswegen, weil sich die «Haider» von seiner Art provoziert fühlen. Es kommt zu handgreiflichen Situationen, die Rainer Winkler als Körperverletzung ausgelegt werden und die tatsächlich das Potenzial haben, ihn ins Gefängnis zu bringen.

Das Spiel ist kein Spiel

Wie angedeutet: Ich hatte schon vor dem Podcast vom Drachenlord gehört. Insbesondere Sascha Lobos Brandartikel von Ende Oktober 2021 ist mir in Erinnerung geblieben: Ein jahrelanges Martyrium in Deutschland – und niemand hält es auf, hat er damals geschrieben und eindeutig Position für Winkler bezogen. Völlig zu Recht, denn diese Form der Unterhaltung ist nur ein bisschen weniger verabscheuungswürdig, als wenn sich im Kollosseum Gladiatoren zur Belustigung der Zuschauer abschlachten oder von wilden Tieren gefressen werden.

Der Podcast ist aus drei Gründen bemerkenswert:

Erstens wegen der Akribie, mit der er die Ereignisse aufrollt. Er macht auch keinen Hehl draus, dass die Beziehung zwischen Winkler und den «Haidern» auch symbiotische Züge hatten: Sie haben sich gegenseitig aufgestachelt, Winkler mehr Zuschauer und damit auch mehr Youtube-Einnahmen beschert.

Zweitens, weil er eine interessante Parallele auftut: In der Episode drei, Echt, nimmt er Rückgriff auf die Nullerjahre, wo auch hierzulande die Reality-Formate wie Big Brother boomten: Die haben das Publikum gelehrt, ihr eigenes Ego damit aufzubessern, indem sie via Fernsehen auf Leute herabschauen konnten (Abwärtsvergleich oder downward comparison). Und so, wie das Internet in vielen Bereichen Disintermediation betrieben hat, passierte das auch bei diesen voyeuristischen Sendungen. Mit Youtube (Motto: «Broadcast yourself») waren die Fernsehsender nicht mehr nötig – jeder kann heute seine Star oder Anti-Star seiner eigenen Reality-Show sein.

Für oder gegen etwas – egal

Drittens, indem die Fankultur beleuchtet wird. Die letzte Folge, Endgame, zeigt auf, wie vernetzte Fans Einfluss nehmen können. Das tun sie auf positive Weise, wie anhand des Project No Control dargelegt wird: Bei dem haben die Fans der britisch-irischen Boygroup One Direction es geschafft, dass der Song «No Control» in die Hitparaden gebracht, obwohl er nicht als Single veröffentlicht worden war. Sie schafften das, indem sie Radiostationen in aller Welt mittels Anrufen, Aufrufen in sozialen Medien und SMS dazu brachten, den Titel zu spielen. Die Kehrseite ist, dass in einer vernetzten Welt Leute genauso viel Energie und Engagement mobilisieren können, wenn es gegen ihr Anti-Idol geht.

Auch nach dem Podcast habe ich Schwierigkeiten zu verstehen, was für Ausmasse das annimmt. Da gibt es die Website drachenchronik.com, in der das Leben Rainer Winklers minutiös nachgezeichnet wird – mit detaillierten Informationen zum Aufenthaltsort, mit Paprazzi-Bildern, Musik, T-Shirts und Reuploads (also Videos, die am Ursprungsort nicht mehr verfügbar sind, aber andernorts neu hochgeladen werden).

Youtube off, Netflix on

Die Geschichte ist damit nicht zu Ende. Zwar hat Youtube im August seine Youtube-Kanäle mit einer fadenscheinigen Begründung gelöscht, aber für dieses Jahr ist mit einer Netflix-Serie zu rechnen. Gesellschaftlich vermittelt der Podcast die Einsicht, dass es gegen solches Cybermobbing keine Handhabe gibt – einfach, weil die Ausmasse so gross sind, dass sie mit den gängigen juristischen Mängeln nicht zu bewältigen sind.

Ein kurzes Wort noch zur Produktion. Bei der ersten Staffel von «Cui Bono» (Hat Ken Jebsen diesen Podcast verdient?) hatte ich bemängelt, dass die Produktion an manchen Stellen etwas gar überzogen und effekthascherisch ist. Das ist in der zweiten Staffel nicht mehr der Fall: Die Produktion ist noch immer aufwändig und «satt», mit Khesrau Behroz als charismatischem Host, der nicht von der Marotte lassen kann, jede Folge mit einem «Hey» zu beginnen, das wie ein Peitschenhieb klingt. Abgesehen davon bleibt der Eindruck, dass diese zweite Staffel ein bisschen stringenter, fundierter und auch relevanter ist als der erste Teil zu Ken-FM.

Beitragsbild: Ein Drache, der youtubt (Dall-e 2).

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