Was wir nicht aus der Alexa-Pleite lernen werden

Als Auftakt zu meiner Jahresmusterung 2022 nehme ich Jeff Bezos und Amazon unter die Lupe. Die Pleite um den smarten Echo-Lautstärke könnte ein Lehrstück sein – aber dieser «Teachable moment» wird ungenutzt verstreichen.

Das Jahr 2022 war aus digitaler Sicht ereignisreich. Es ist aber nicht zu übersehen, dass nicht die Tech-Giganten (GAMAM) die Diskussion dominierten, sondern Winzling: Twitter. Elon Musk hat sich aufgeführt, als wolle er Jeff Bezos den Rang streitig machen, den ich ihm letztes Jahr zugestanden habe: Ich habe ihn nämlich zur besten realen Verkörperung des archetypischen Bond-Bösewichts gekürt.

Doch auch wenn Elon sich verhält wie die Axt im Wald, hat sich seine Qualifikation für diese Rolle 2022 nicht verbessert. Im Gegenteil: Er hat genau das vermissen lassen, was einen Bond-Bösewicht auszeichnet. Das ist die kühle Berechnung, mit der er unbeirrbar einen teuflischen Plan verfolgt. Elon wirkt wie ein Fünfjähriger im Körper eines Multimilliardärs. Er tut und twittert, was ihm fünf Sekunden vorher eingefallen ist – und er zeigt ähnlich viel Impulskontrolle wie ein Kleinkind in der Süsswarenabteilung eines Warenhauses.

Vom Kapitalismus-Thron gestürzt

Eine abschliessende Würdigung dieser Leistung scheint mir zu früh – das fassen wir für den Moment ins Auge, wenn er die Führung seines Mikroblogging-Dienstes tatsächlich abgegeben hat.

Stattdessen kümmern wir uns an dieser Stelle um den Mann, dessen Name bereits gefallen ist und dessen Unternehmen: Jeff Bezos und Amazon. Ersterer hat 2022 vor allem damit Schlagzeilen gemacht, dass er den Rang als reichster Mann der Welt verloren hat. Im Juni 2022 wurde er in der «Forbes 400»-Liste von besagtem Elon Musk überholt. Dessen Reichtum wurde damals auf sagenhafte 219 Milliarden US-Dollar geschätzt.

Obwohl es Elon in Sachen Cholerik mit Dagobert Duck aufnehmen kann, wurde er bereits wieder entthront. Inzwischen kontrolliert Gautam Adani am meisten monetäre Mittel, sodass Bezos inzwischen auf Platz drei abgerutscht ist. Bemerkenswert ist, dass der nicht aus der Tech-Branche kommt, sondern der grösste Hafen- sowie einer der führenden Flughafenbetreiber und Logistiker Indiens ist.

Was Bezos anbelangt, hat er seinen Job als CEO von Amazon im September abgegeben. In den Ruhestand geht er nicht, wie ich aus einer ahnungsvoll raunenden und heftig clickbaitingen Schlagzeile von Inc.com erfahren habe: «Jeff Bezos hat seinen Job als CEO von Amazon gekündigt, um am grössten Problem des Unternehmens zu arbeiten. Das könnte das Unternehmen retten.»

Things that make you go hmmm

Es dauert lang, bis der Artikel damit herausrückt, was das genau ist. Zitiert wird das Ziel aus einem Brief an die Aktionäre, den Bezos schon im April 2021 geschrieben hat:

Wir wollten schon immer das kundenorientierteste Unternehmen der Welt sein. Daran werden wir nichts ändern. Das hat uns hierher gebracht. Aber ich verpflichte uns zu einem weiteren Schritt. Wir werden der beste Arbeitgeber der Welt und der sicherste Ort zum Arbeiten sein.

Das sind hochgesteckte Ziele. Besonders wenn wir bedenken, dass Amazon das Unternehmen ist, das damit in die Schlagzeilen geraten ist, dass Mitarbeiter in Flaschen pinkeln mussten (und hoffentlich nicht mehr müssen), weil ihnen nicht genügend Zeit für eine WC-Pause zugestanden wird.

Aber gut – vielleicht hat Bezos jetzt, wo er nicht mehr Chef ist, tatsächlich die Musse, diese Dinge anzugehen. Diese Hoffnung kommt auch im erwähnten Beitrag von «Inc» zum Ausdruck. Das Fazit am Ende lautet dort: «Am Ende kann er sich selbst und sein Unternehmen vor dem bewahren, was er am meisten fürchtet: so zu werden wie alle anderen.»

Den Mund vielleicht etwas voll genommen?

Wir werden sehen – aber bis Amazon ein liebenswertes Unternehmen wird, muss ein Turnaround passieren, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat.

Was Amazon angeht, standen die Zeichen 2022 auf Sturm: Der Aktienkurs ging nach unten und es werden um die 10’000 Stellen abgebaut. Schuld sind hauptsächlich die smarten Echo-Lautsprecher und die Sprachassistentin Alexa: Sie seien ein «kolossaler Misserfolg».

Wir erinnern uns: 2018 war der Kampf und die Vorherrschaft bei den digitalen Assistenten und den vernetzten Lautsprechern auf dem Höhepunkt; Google und Amazon haben sich an der Elektronikmesse CES mit Ankündigungen überboten. Diese Gerätegattung sollte zum neuen Umsatzträger werden, nachdem sich der Smartphone-Markt der Sättigung genähert hatte.

Lehren? Nein danke!

Diese Hoffnung hat sich zerschlagen. Das hat sicherlich mit den Skandalen um den Datenschutz und Schlagzeilen wie Wenn die Sprachassistenten beim Sex zuhören zu tun. Aber letztlich ist die Sprachschnittstelle einfach nicht leistungsfähig genug: Die Assistenten verstehen zu wenig. Sie sind darauf angewiesen, dass wir genau wissen, welche Kommandos zum Ziel führen und welche nicht. Das schränkt die Möglichkeiten viel zu sehr ein – und es zeigt nebenbei auch sehr deutlich die Grenzen von maschinellem Lernen und der künstlichen Intelligenz auf.

Das ist eine bittere, aber auch nicht sehr überraschende Erkenntnis für alle, die der Euphorie nie so ganz getraut haben. Es könnte und müsste Anlass sein, unsere Begeisterung fürs Metaversum und die smarten Brillen zu hinterfragen – denn bei dem ist der Hype sogar noch deutlich grösser. Doch ohne Zweifel werden Vernunft und Nüchternheit auch dieses Mal nicht siegen. Stattdessen werden viele Unternehmen viele Milliarden in diesen Markt versenken, bis wir feststellen, dass die Technik noch nicht reif ist.

Damit sind wir bei der Lehre, die an dieser Stelle gezogen werden müsste: Die hohe Kunst für ein erfolgreiches Produkt ist das richtige Timing.

Und darum die Frage: Wann wäre der richtige Moment für vernetzte Lautsprecher und digitale Assistenten? Denn während ich mir beim Metaversum sicher bin, dass dessen Zeit noch längst nicht gekommen ist, stelle ich mir die Frage, ob bei Amazons in Ungnade gefallenem Produkt dieser womöglich in Reichweite ist. Es könnte sein, dass diese Produkte demnächst alle die Dinge beherrschen, die wir vor fünf Jahren von ihnen erwartet haben.

Es entbehrt jedenfalls nicht einer gewissen Ironie, dass genau jetzt Amazon die Erwartungen in Alexa und Co. drastisch herunterschraubt, wo ChatGPT das Licht des Internets erblickt. Dieser Prototyp einer Kommunikationsmaschine lässt uns erahnen, dass digitaler Assistent mehr kann, als Lichter ein- und auszuschalten, die Eieruhr zu stellen oder die Wetterprognosen abzurufen. Ich habe ihn als einschüchternd erlebt.

Es liegt auf der Hand, dass sich die Echo-Abteilung beim Amazon jetzt die Frage stellen müsste, ob die Zeit für Alexa 2.0 gekommen ist. Die Gefahren und Probleme will ich dabei nicht vom Tisch wischen: Ich bin überzeugt, dass eines der Probleme, das uns in Zukunft beschäftigen wird, all die Fehlinformationen sind, die uns diese (halt wirklich selbst denkenden) KI-Algorithmen servieren werden.

Das eine Ding (links) hat wenigstens noch nostalgischen Wert (Find Experts at Kilta.com, Unsplash-Lizenz).

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