Einmal in der Haut der eigenen Eltern stecken!

«Les 7 vies de Léa» ist eine berührende Netflix-Serie, die noch einen Zacken eindrücklicher als «Back to the Future» vorexerziert, welches romantisch-abenteuerliche Potenzial in Zeitreisen streckt.

Die Netflix-Serie Les 7 vies de Léa (Léas 7 Leben) hat es mir angetan. Das ist wunderbare Geschichte mit einem fantastischen Zeitreise-Element, in der es aber so gar nicht um Sciencefiction oder mit Flux-Kompensatoren ausgestattete Delorians geht, sondern um eine Gruppe junger Leute und ihr kompliziertes – aber nicht aussergewöhnliches – Verhältnis, das auf schicksalshafte Weise in die Gegenwart ausstrahlt und das Leben der Titelheldin auf unerklärliche Weise belastet.

Also, da ich euch nicht mit Spoilern den Spass verderben will, bleibt es an dieser Stelle bei einer Empfehlung: Das ist endlich mal eine Geschichte, in denen die Zeitsprünge nicht bloss ein billiges erzählerisches Mittel sind, mit denen Geschichten aufgemotzt werden, die, linear erzählt, nicht viel hergeben würden. Nein, die Zeitsprünge gehören integral dazu, weil es sich um einen Vertreter jenes Genres handelt, das sich «Zeitreise-Märchen» nennen würde.

Sorry, kein Delorean

Es unterscheidet sich von der klassischen Zeitreise-Story, dass der Sciencefiction-Einschlag fehlt und es keine technische Erfindung gibt, die den temporalen Sprung ermöglicht. Nein, er passiert einfach – was die Hauptfigur dazu zwingt, sich mit Taten und ihren Konsequenzen auseinanderzusetzen. Und die sind beim Zeitreise-Märchen auf der zwischenmenschlichen Ebene angesiedelt. Bei The Time Traveler’s Wife geht es um eine verzwickte Liebesgeschichte; bei A Thousand Pieces of You genauso (auch wenn hier nicht die Zeit, sondern das Paralleluniversum gewechselt wird).

Die Netflix-Serie überzeugt durch eine feinfühlige Erzählweise, in der grosse Zuneigung zu den Hauptfiguren steckt. Ich komme je länger je mehr zum Schluss, dass das ein entscheidendes Kriterium für die Qualität einer Geschichte ist – ein Autor oder ein Regisseur, der alle seine Figuren mag, die Protagonisten genauso wie die Antagonisten. Das zeichnet J.K. Rowling und Andreas Eschbach aus. Und auch die Macher der Netflix-Serie, die auf der Geschichte «Les 7 Vies de Léo Belami» des französischen Autors Nataël Trapp (der noch nicht einmal eine Wikipedia-Seite hat!).

Überzeugende Jungschauspieler

Natürlich kann die Serie ihre Geschichte nur deshalb so feinfühlig erzählen, weil die Schauspieler grossartig sind. Einige der Hauptfiguren, insbesondere Raïka Hazanavicius als Léa und Khalil Ben Gharbia als Ismaël – haben nur wenig schauspielerische Erfahrung. Trotzdem sind sie auch dann überzeugend, wenn sie die schwierige Aufgabe meistern müssen, jemand anderen in ihrem eigenen Körper zu spielen.

Und, drittes Plus: Die Landschaft ist grossartig. Die Serie wurde im Département Alpes-de-Haute-Provence aufgenommen, das eine tolle Kulisse für die Geschichte bietet und nebenbei den produktionstechnischen Vorteil hat, dass sich dort seit den 1990er-Jahren nicht so viel verändert hat, dass sich die Szenen, die in der Vergangenheit spielen, mit vertretbarem Aufwand auch sehr glaubwürdig realisieren liessen.

Léa (rechts) trifft ihre Eltern.

Also: Wer gern Zeitreisen hat, die nicht in einem Science-Fiction-Setting stattfinden und auch im höheren Alter mit gefühlsverwirrten Teenagern etwas anfangen kann, muss sich «Les 7 vies de Léa» ansehen. Ich habe in einigen Kritiken einen Querverweis zu Back to the Future gelesen. Das ist nicht ganz verkehrt, weil die beiden Produktionen einige der Motive gemeinsam haben. Es passt aber auch nicht so wirklich, weil die Zeitmaschine fehlt und es nicht darum geht, eine unabsichtliche Veränderung der Vergangenheit zu korrigieren. Aber natürlich geht es darum, zu ergründen, wie die Vergangenheit die Gegenwart beeinflusst. Und was das angeht, ist das Ende von «Les 7 vies de Léa» weniger Popcorn-Kino-haft, aber umso ergreifender.

Was ist mit Ismaël passiert?

Also, ab hier gibt es eine kurze Zusammenfassung mit Spoilern: Wer die Serie sehen will, sollte nicht weiterlesen!

Amiramin695, CC BY-SA 4.0

Die Geschichte beginnt mit Léa, die ein Skelett entdeckt, das als Ismaël identifiziert wird. Er war ein junger Mann, der 1991 verschwunden ist. Als Léa des Nächtens einschläft, findet sie sich unversehens im Körper von Ismaël wieder. Es ist der 15. Juni 1991 und genau eine Woche vor dem Tag, an dem der junge Mann nach einem Konzert nicht mehr gesehen worden ist.

Léa erkundet nicht nur diesen fremden Körper, sondern auch das Umfeld, in dem Ismaël lebt. Sie findet heraus, dass er mit ihren Eltern befreundet ist und gemeinsam mit ihnen in einer Band spielt. Sie stösst auch auf Konflikte zwischen Ismaël mit Altersgenossen und beginnt sich natürlich sofort zu fragen, wie sich die Tragödie am siebten Tag anbahnt.

Nach dem einen Tag ist Léa zurück in ihrem Körper und in der Gegenwart. Sie findet Ismaëls Notizbuch, das sie während ihres Trips in die Vergangenheit vergraben hat und besitzt so den Beweis, dass nicht alles nur ein Traum war und dass sie die Möglichkeit hat, die Vergangenheit zu verändern.

Mutter hat es faustdick hinter den Ohren

Am Tag danach, am 16. Juni, findet sich Léa im Körper ihrer Mutter wieder. Sie findet heraus, dass die Beziehung ihrer Eltern keine Teenager-Romanze ist und dass ihre Mutter Karine ein doppeltes Spiel spielt. Sie lässt Ismaël im Glauben, dass sie mit ihm nach Paris abhauen will. Gleichzeitig hat sie sich an einer Musikschule in London angemeldet, wo sie gute Chancen hat und – wenn sie angenommen wird – nicht nur Ismaël, sondern auch ihren zukünftigen Vater Stéphane zurücklassen wird.

Am 17. Juni wacht Léa als Pye auf. Er ist auf den ersten Blick ein ziemliches Arschloch und ein Widersacher von Ismaël, doch Léa erfährt, dass sich die Dinge anders präsentieren, wenn man, wortwörtlich, in jemandes Haut steckt. Doch weil sie sich ins Pyes Liebesleben einmischt und in seiner Rolle einer seiner flüchtigen Liebschaften mehr Ernsthaftigkeit verleiht, stellt sie nach der Rückkehr in ihren Körper fest, dass sich die Gegenwart verändert hat: Eine junge Frau – obendrein der Schwarm ihrer Freundin Romane (Maïra Schmitt) – hat aufgehört zu existieren.

Sandra ist nicht so oberflächlich, wie alle glauben

Am 18. Juni hat Léa die Gelegenheit, das wiedergutzumachen. Sie wacht nämlich im Körper von Sandra auf. Sie ist eine jener jungen Frauen, die wir bei oberflächlicher Betrachtung als Zicke bezeichnen würden. Sie hat es aber nicht gerade leicht, denn sie ist schwanger und lebt in prekären Verhältnissen. Aber Léa gelingt es, dem zukünftigen Freund von Pyes Liebschaft gut zuzureden, sodass die Beziehung – und Romanes Schwarm, wieder zurück in die Existenz gelangt.

Beim Versuch, zu verstehen, was mit Ismaël passiert ist, kommt Léa auch am 19. Juni nicht weiter. Sie wacht im Körper von Patricia auf. Die hat einen Plattenladen im Städtchen, der aber kurz vor der Pleite steht – obwohl sie in Plattenhüllen von Iggy Pop auch Drogen verkauft. Patricia ist eine Art Managerin der Band von Ismaël, ihrer Mutter und ihrem Vater, und sie schläft ab und zu mit Ismaël – wobei sich Léa diese Gelegenheit nicht entgehen lässt und hinterher feststellt, dass das auch für Ismaël etwas Besonderes war.

Sie entdeckt, dass Patricia eine Waffe besitzt und in der Gegenwart als heruntergekommene Eremitin lebt, die der Hexe in «Hänsel und Gretel» alle Ehre machen würde. Und auch mit den anderen Menschen um sie herum geht es Bergab, weil die Entdeckung von Ismaëls Überreste alte Wunden aufgerissen haben. Ihre Mutter verlässt ihren Vater und der ist so suizidal, dass Léa ihn nur mit Mühe davon abhalten kann, völlig besoffen ins Auto zu steigen.

Papa braucht noch bis zum Coming-out

Am 20. Juni landet Léa im Körper ihres Vaters. In dieser Situation versucht sie, Stéphanes Beziehung zu ihrer Mutter Karine zu reparieren, doch beim Zeltausflug mit Ismaël findet sie heraus, dass Stéphane eigentlich in Ismaël verliebt ist. Der weiss das auch und will ihn dazu bringen, zu seiner sexuellen Identität zu stehen. Doch da Léa nachvollziehbar erschüttert ist, bleibt die Reaktion die gleiche, wie sie Stéphane damals gezeigt hat: Er rennt völlig aufgelöst davon.

Nun beginnt Léa zu schwanen, in welchem Dilemma sie steckt: Wenn sie Ismaël rettet, dann setzt sie ihre eigene Existenz aufs Spiel – denn dass ihre Eltern zusammenkommen, ist nur durch die Tragödie des verschwundenen Freundes zu erklären. Sie muss sich zwischen sich und Ismaël entscheiden. Sie versucht, sich mit Energy-Drinks wach zuhalten, um nicht wieder einzuschlafen.

Doch das klappt nicht: Sie landet wieder im Jahr 1991. Am 21. Juni findet sie sich im Körper von Ismaël wieder und ist noch immer entschlossen, wieder heil in ihr Leben zurückzukehren. Doch das erweist sich als nicht so einfach, weil das Konzert der Band ihrer Freunde mit einigem Drogenkonsum verbunden ist.

Ein Akt der Liebe

Also ereignen sich die Ereignisse so, wie sie schon einmal passiert sind: Ismaël, ihre beiden Eltern, Patricia, Pye und Sandra finden sich bei einem Drogen-berauschten Ausflug im Wald wieder. Dort kommt Patricias Pistole zum Vorschein, ebenso Pyes aufgestaute Aggressionen gegen Ismaël. Doch es ist nicht er, der Ismaël erschiesst. Und es ist auch nicht Stéphane, der nun endlich mit seiner Liebe zu Ismaël herausrückt und sich unter dem Einfluss der Drogen und seiner Verzweiflung erschiessen will, worauf Ismaël beim Versuch, ihn davon abzuhalten, in die Schlucht stürzt.

Das Unglück abgewendet.

Doch Ismaël taucht aus dem Fluss auf, nur um auf eine Gruppe weiterer marodierender Jugendlicher zu treffen, die in ihm ihr rassistisches Feindbild sehen. An dieser Stelle gelingt es Léa, die Geschichte zu ändern: Sie redet dem jungen Mann, der Ismaël ursprünglich erschossen hat, gut zu, sodass er den Mord nicht vollzieht. Léa erkennt, dass ihre Eltern, aber auch Patricia, Pye und Sandra die ganze Zeit unter dem Eindruck gelebt haben, den Tod Ismaëls verursacht, respektive nicht verhindert zu haben. Sie kann sich damit anfreunden, für diese Wendung auf ihre Existenz zu verzichten. Doch bevor sie sich mit dem Einschlafen als Ismaël in Nichts auflöst, schreibt sie ihre Geschichte in Ismaëls Notizbuch, der es beim Aufwachen vorfindet, wie es auf seiner Brust liegt.

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