Der freundliche Chatbot, der uns gewaltig einschüchtern sollte

ChatGPT ist ein so eindrücklicher Sprachassistent, dass sich unweigerlich die Frage stellt: Warum wurde er nicht als neue, revolutionäre Such- und Wissensmaschine lanciert, die Google und Konsorten aus dem Netz hinwegfegt?

Natürlich bin ich nicht umhingekommen, den Chatbot zu testen, von dem alle so schwärmen. Er heisst ChatGPT und stammt vom gleichen Unternehmen, das auch den Bildbot Dall-e 2 auf die Menschheit losgelassen hat.

Nun, dieser Bot tut etwas Ähnliches: Er erzeugt Inhalte anhand einer Vorgabe. Man kann zwar auch Konversationen mit ihm führen, aber die Idee ist, dass wir ihm einen Auftrag geben. Zum Beispiel kann man ihn fragen, worauf es beim Schachspielen ankommt¹.

Diese Erklärung, die er daraufhin liefert, bringt die Sache auf den Punkt, aber sie ist (noch) kein Grund für Ehrfurcht. Denn ChatGPT kann auf eine riesige Masse an Text zurückgreifen. Der Algorithmus hat sicherlich auch viele Informationen in maschinenlesbarer Form zur Verfügung. Irgendwo existiert die Erklärung zum Schach und sie braucht nur nachgeschlagen zu werden. Trotzdem: Er liefert sie in kurzer, schlüssiger und sprachlich einwandfreier Form ab.

Hexameter und Hemingway

Die Begeisterung, die ChatGPT derzeit auslöst, hat einen anderen Grund. Der liegt darin, dass der Bot auch formale Kriterien berücksichtigt. Sein Bild-generierender Cousin kann einem Werk den Stil eines Künstlers oder eine bestimmte Anmutung verleihen. Der Chat-Bot gibt seine Informationen auch als Hexameter aus² oder imitiert den Stil eines Autors wie zum Beispiel Hemingway³.

ChatGPT macht auf dicke Hose.

Das Hemingway-Beispiel ist bemerkenswert, weil der Bot so etwas wie Selbstreflexion offenbart: Er gibt zu, dass er sich nur bedingt in diesen Autor hineinversetzen kann und erklärt, welche Stilmittel er anwendet: Klar, einfach, direkt. Und der ChatGPT behält den Kontext des Gesprächs in Erinnerung. Das heisst, wir brauchen nicht jedes Mal zu erwähnen, dass es uns ums Schachspiel geht, sondern können auch einfach fragen, wie Hemingway das gesagt hätte.

Das ist beeindruckend, aber meiner bescheidenen Meinung nach ändert ChatGPT nichts an der Tatsache, dass Computer bis auf weiteres dumm bleiben. Auch dieser Sprachgenerator äussert keine eigenen Ideen, ist nicht von sich aus kreativ, sondern hat unglaubliche Mengen an Wissen und Vorlagen und enorme Rechenleistung zur Verfügung – und ist darum hervorragend darin, menschliche Problemlösungs-Strategien zu imitieren.

Die Geburtsstunde einer neuen Spezies?

Spannend – und für die Menschheit als Ganzes herausfordernd – dürfte es dann werden, wenn wir einige Dutzend solcher Bots mit spezialisierten Fähigkeiten haben und anfangen, die untereinander zu vernetzen. Wenn diese Bots sich gegenseitig in Gang setzen und auf Ideen bringen können, dann würde ich es für möglich halten, dass etwas Verblüffendes passiert. Vielleicht wäre es die Geburtsstunde einer neuen Spezies. Aber ich halte es für wahrscheinlicher, dass etwas Neues entsteht, für das wir Menschen uns einen Namen ausdenken müssten.

Aber bleiben wir im Hier und Jetzt. Das disruptive Potenzial dieser Erfindung ist unübersehbar. Ebenso das Missbrauchspotenzial: Die Zeit der ungelenken Spam-Mails dürfte bald vorbei sein. Ich vermute auch, dass in naher Zukunft auch plötzlich neue Manuskripte von längst verstorbenen Autoren auftauchen werden. Und in vielen Redaktionsstuben werden solche Bots damit beauftragt sein, Agenturmeldungen der Tonalität des Mediums anzupassen. (Huch, habe ich diese Voraussage jetzt im Abschnitt zum Missbrauchspotenzial gemacht? Wie konnte das passieren!)

Sundar Pichai müssten die Hosenbeine schlottern

Zurück zu den legitimen Anwendungen. Ich wette einen Jahreslohn darauf, dass sich Google-Chef Sundar Pichai Sorgen um sein Geschäftsmodell macht – und zu Recht: Falls ihm nicht die Hosenbeine schlottern, dann sitzt er am falschen Ort. Denn wer will noch eine Suchmaschine verwenden, wenn die Leute einem Bot ihre Fragen stellen können und eine pfannenfertige Antwort erhalten? Eine, die sie per Copy-Paste in ihren Schulaufsatz einfügen können?

Fangfrage hat nicht gefangen.

Ich erinnere daran, dass Google schon vor bald zehn Jahren die Idee hatte, die klassische Websuche abzulösen. Google antwortet, bevor Sie fragen, lautete damals das Versprechen. Aus den Entwicklungen sind digitale Assistenten wie Google Assistant, Alexia, Siri und Microsoft Cortana geworden, doch die haben die Erwartungen bislang nicht erfüllt – wovon dann auch in meinem Jahresrückblick zu Amazon die Rede sein wird.

Warum will OpenAI nicht die Welt erobern?

Warum, fragen wir uns, wurde ChatGPT als Chatbot lanciert und nicht als neue, revolutionäre Suchmaschine bzw. als allumfassende Wissensmaschine, die neun Zehntel des Webs überflüssig macht? Ich sehe vier Gründe:

Die Falschinformationen: Bei der Nutzung des Bots werden wir gewarnt, dass nicht alles, was wir zu sehen bekommen, auch tatsächlich stimmt. Und klar, das trifft auch für eine Google-Recherche zu. Doch eine Suchmaschine, die Resultate nur vermittelt, kann die Fehler auf die Quelle schieben. Ein Bot, der sie in Eigenregie und keine Quelle ausweist, kann das nicht.

Immerhin; dieses Problem liesse sich ausschalten, wenn der Bot wie die klassische Suchmaschine Webtreffer vermitteln würde. Das wäre im Vergleich zwar ein deutlich kleineres Brötchen, aber im Alltag dennoch eine riesige Hilfe: Der Bot könnten bei der Suche nach Apple fragen, ob wir die Frucht oder das Unternehmen meinen. Und wir hätten die Möglichkeit, in einem Dialog die Trefferliste weiter auf das auszudünnen, was uns tatsächlich interessiert.

Der Investor: Beim Betreiber OpenAI ist Microsoft einer der Investoren. Microsoft betreibt mit Bing eine eigene, klassische Suchmaschine.

Das Geschäft: Der Bot soll vorerst einen exklusiveren Charakter bewahren. Sam Altman, der Chef von OpenAI, meinte auf Twitter, eine Suchanfragen würde ein paar Cent kosten. Das kann man zumindest als Andeutung verstehen, dass für eine kommerzielle Nutzung pro Anfrage bezahlt werden müsste. Bei Dall-e 2, dem Bildbot, benötigt man für einen Lauf einen Credit, der mit ungefähr 13 Cent zu Buch schlägt.

Die Gesellschaft: OpenAI führt die Forschung nach eigenem Bekunden für das Allgemeinwohl durch. Wenn ein Bot derart vorpreschen würde, dass die Google-Suchmaschine über Nacht obsolet wird, würden sich viele Nutzerinnen und Nutzer vor den Kopf gestossen fühlen. Schliesslich ist das Googeln inzwischen eine Alltagsbeschäftigung, die im Netz und in der digitalen Welt Orientierung und womöglich sogar so etwas wie Halt bietet.

2022 hat uns eines gezeigt: Nämlich, dass diese künstlichen Intelligenzen (wenn wir sie so nennen wollen), die Fähigkeit erlangt haben, uns nachhaltig einzuschüchtern. Sie sind zwar nicht intelligent, aber sie verbergen das inzwischen unglaublich geschickt. Und ja, wenn ich selbst einen Hexameter schreiben müsste, bekäme ich das nicht in ein, zwei Sekunden hin.

Die Pandora ist aus der Büchse

Eine männliche Variante hat mir Dall-e auch noch fabriziert.

Darum tut OpenAI meines Erachtens gut daran, ihre Kreationen mit Zurückhaltung und grosser Vorsicht auf uns Menschen loszulassen. Das ändert aber nichts an der Sache, dass Pandora aus der Büchse draussen ist. Machen wir uns keine Illusionen: Auch wenn ChatGPT derzeit ein lustiges, experimentelles Spielzeug ist, gibt es dennoch Hunderte oder Tausende Leute, die überzeugt sind, dass sich ihnen hier die Möglichkeit eröffnet, die Tech-Sphäre neu zu ordnen und den grossen Konzernen ihre Vormachtstellung streitig zu machen.

Auch die Konzerne selbst haben gar keine andere Wahl, als diese Erschütterung der Macht wahrzunehmen. Es ist unübersehbar, wie minderbemittelt Siri im Vergleich wirkt.

Und damit verspricht 2023 ein spannendes Jahr zu werden!

Fussnoten

1) «Ein wichtiger Faktor beim Schachspielen ist die Fähigkeit, logisch und strategisch zu denken und vorauszuplanen. Ein guter Schachspieler muss auch in der Lage sein, schnell zu handeln und die Bewegungen und Absichten des Gegners zu antizipieren. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Kenntnis der Schachregeln und die Fähigkeit, sie im Spiel anzuwenden. Schliesslich ist auch die Erfahrung ein wichtiger Faktor, da sie dem Spieler ermöglicht, aus früheren Spielen zu lernen und seine Fähigkeiten zu verbessern.»

2) «Beim Schachspiel ist Klugheit gefragt,
des Weiteren Logik und kluge Taktik.
Schnelles Handeln und vorausschauendes Denken
sind ebenfalls von grosser Bedeutung.
Kenntnisse der Regeln und Erfahrung im Spiel
sind wichtig, um zu bestehen und zu siegen.»

3) «Ernest Hemingway war ein berühmter Schriftsteller, der bekannt war für seine klaren, einfachen und direkten Schreibstile. Es ist schwierig, genau vorherzusagen, wie er etwas gesagt hätte, aber es könnte so aussehen:

‹Beim Schach geht es darum, klug und vorausschauend zu denken. Du musst schnell handeln und die Absichten deines Gegners verstehen. Und natürlich musst du die Regeln kennen und gut im Spiel sein, um zu gewinnen.›»

4) Ich habe ChatGPT natürlich gefragt, ob er mir Informationen aus dem Web vermitteln kann. Immerhin, einen Link konnte ich ihm abringen. Ich habe gefragt «Gibt es eine Website, auf der ich Nachrichten über dich lesen kann?» Die Antwort:

Ich bin ein computergestützter Sprachassistent und wurde von OpenAI entwickelt. OpenAI ist ein forschungsorientiertes Technologieunternehmen, das sich auf die Entwicklung von künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen konzentriert. Sie können mehr über OpenAI und ihre Arbeit auf ihrer Website erfahren: www.openai.com. Leider bin ich selbst keine Person und habe keine eigene Website oder Nachrichtenquelle.

Beitragsbild: «Ein grosser, freundlicher Roboter, der eine Schreibmaschine benutzt» (Dall-e 2).

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