Eine App fürs Zweit-Gehirn

Obsidian ist eine Mischung aus Text­ver­ar­bei­tung, Notiz-App und Wissens­mana­gement – und gemacht für alle, für die «Know­ledge worker» eine ernst­hafte Selbst­be­zeich­nung ist.

Generationenwechsel gibt es in vielen Bereichen: Die Alten gehen und Junge rücken nach. Das bringt es mit sich, dass Veränderungen nicht nur wahrscheinlich, sondern geradezu unvermeidlich werden. Denn die neue Generation ist anders geprägt und hat eigene Ansprüche. Und ist (hoffentlich!) der Ansicht, dass es viele alte, festgefahrene Routinen gibt, die unbedingt neu gedacht werden müssen.

Wikipedia schreibt, von solchen Generationenwechseln seien Betriebe, Parteien und Sportmannschaften betroffen. Wenn man den Begriff nicht explizit auf Organisationen bezieht, die sich mit ihrer Nachfolgeregelung auseinandersetzen müssen, dann passt er auch auf die Software-Branche als Ganzes. Denn auch hier gibt es eine neue Generation, die antritt, um alles anders zu machen.

Es gibt ein Merkmal, das mir ganz typisch für diese junge Generation zu sein scheint: Es besteht darin, dass sie die Grenzen der klassischen Software-Kategorien sprengen will. Diese klassischen Kategorien sind Textverarbeitung, Datenbank, Tabellenkalkulation und Notiz-App – also jenen Produkten, die zusammen mit dem PC und dem Desktop-Computing gross geworden sind.

Die Idealvorstellung des agilen, digitalen Nomaden

Die Apps, die heute ausgetüftelt werden, stammen aus dem Internet-Zeitalter. Sie werden von Leuten genutzt, die mal am kleinen Handybildschirm und mal am grossen 24-Zoll-Monitor arbeiten. Sie sind – wenn ich dieses Modewort brauchen darf – agiler und mehr auf Teamarbeit getrimmt. Es spielen auch Idealbilder wie die des überall kreativen digitalen Nomaden ins Selbstverständnis.

Diese Generation sieht sich als Wissensarbeiter, die demzufolge auch keine Word- oder Excel-Dokumente fabrizieren, sondern virtuos mit Informationshäppchen jonglieren will, die zu grossen Gedankengebäuden aufgeschichtet werden. Das führt dazu, es bei vielen Anwendungen gar nicht mehr so einfach ist zu beschreiben, was sie eigentlich tun.

Einige Beispiele: Notion ist für Notizen, Wissensdatenbanken, Projektmanagement und Zusammenarbeit ausgelegt (Was auch immer diese App tut – sie tut es auf clevere Weise). Airtable ist eine Kombination aus Tabellenkalkulation und Datenbank (Airtable ist keine Luftnummer).

Und eine App, die ich in dieser Kategorie verorten würde, heisst Obsidian. Man kann sie als Notiz-App und als Text-Editor für Markdown-Dateien verwenden. Mit ihr lassen sich Wissensdatenbanken à la Wikipedia aufbauen. Und sie lässt den Nutzer Dokumente als konzeptuelle Diagramme darstellen.

Das Programmfenster mit der Dateiverwaltung links und der Ansicht mit Gliederung und Hyperlinks rechts.

Was das heissen könnte, erkläre ich gleich. Zuerst aber ein paar grundlegende Dinge: Obsidian gibt es für Windows, Mac und Linux, sowie für iPhone und iPad und für Android. Die Nutzung ist für Privatanwender kostenlos, aber es zwei Preispläne: eine Lizenz für einmalig 25 US-Dollar, wenn man die Entwicklung unterstützten will, plus eine kommerzielle Lizenz für fünfzig US-Dollar pro User und Jahr.

Synchronisation mit dem Clouddienst nach Wahl

Die Daten werden lokal gespeichert. Wenn man die Daten zwischen Geräten synchronisieren will, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder nutzt man seine eigenen Clouddienste; gemäss Anleitung dürfen die üblichen Verdächtigen (Dropbox, Google Drive, iCloud Drive, Onedrive) benutzt werden¹. Oder man verwendet Obsidian Sync, was das zehn US-Dollar pro Monat oder 96 Dollar pro Jahr kostet.

Also, zurück zu dem, wozu Obsidian gut ist:

Im Kern ist die App ein Editor, der die Markdown-Auszeichnungssprache verwendet: Wir können sie daher als Text-App ähnlich wie Typora oder iA Writer verwenden. Es gibt eine eingebaute Dateiverwaltung, die eher für Notizen denn für klassische Textverarbeitungsdokumente ausgelegt ist – was aber nicht heisst, dass wir sie nicht auch dafür verwenden könnten.

Es gibt die Möglichkeit, die Dokumente untereinander zu verknüpfen: Das wiederum erinnert an Wikis, die dazu da sind, kleinere oder grössere Wissenssammlungen aufzunehmen und Querverbindungen herzustellen. Während die klassischen Notizbuch-App es erlauben, getrennte Notizen in separaten Notizbüchern unterzubringen, operieren wir bei Obsidian mit Vaults.

Die Notizen visuell in eine Beziehung bringen

Der letzte Punkt ist derjenige, der Obsidian einzigartig macht: Das ist das konzeptuelle Diagramm, das in visueller Form zeigt, wie die einzelnen Notizen in Verbindung stehen. In Englisch wird das knowledge graph genannt, wobei die Idee ist, dass wir unsere Gedanken Brainstorm-artig arrangieren können – doch statt wie bei einer klassischen Mindmap kleine Kästchen verbindet, werden hier Dokumente und Notizzettel verknüpft.

Die Darstellung als «Graph view» gibt in meinem Fall nicht wahnsinnig viel her.

Wie das funktioniert, lässt sich anhand der Hilfe zu Obsidian ansehen: Die verwendet die Graph View, um die Beziehung der einzelnen Hilfethemen zu visualisieren.

Ich finde diese Idee einleuchtend und spannend. Ob sie in der Praxis etwas taugt, kann ich nicht fundiert beurteilen, denn dafür habe ich noch nicht lange genug mit Obsidian gearbeitet.

Ich vermute, dass der Nutzen von zwei Dingen abhängt: Erstens muss man mit Mindmaps vertraut sein:

  • Wer Freude daran hat, seine Gedanken und Ideen als Auslegeordnung zu visualisieren, der kann damit sicherlich etwas anfangen.
  • Zweitens sind Projekte von ausreichender Grösse vonnöten. Ich bewege mich normalerweise in meinen fünf Notizblättern mit Themen-Ideen und einigen fortlaufenden Informationssammlungen. Dieser Datenbestand muss nicht unbedingt visualisiert werden.
Zentral für die Arbeit mit Obsidian ist die Eingabeaufforderung.

Was mir aber gut gefällt, ist die offene Speicherung der Daten, die es erstens ermöglicht, Informationen lokal vorzuhalten und einem zweitens Flexibilität bei der Wahl der Synchronisierungsmethode gibt. Wie neulich im Beitrag Wer der Cloud vertraut, hat auf Sand gebaut ausgeführt, ist das das grosse Manko meiner derzeitigen Notiz-App Simplenote: Wenn bei der die Cloud nicht mitspielt, sind die Notizen weg.

Die Elemente der Benutzeroberfläche lassen sich einklappen, sodass kaum etwas ablenkt.

Flexibel, vielseitig, unaufdringlich

Ein paar weitere Dinge sind positiv zu vermerken:

  • Das Programmfenster hält links eine Leiste mit einer Übersicht aller zum Vault gehörenden Notizen bereit. Diese Dateiliste können wir nach verschiedenen Kriterien sortieren. Es gibt die Möglichkeit, neue Ordner zu erstellen, Notizen zu suchen und mit Sternen zu versehen und sie über die Favoriten-Ansicht zu öffnen. Am rechten Rand gibt es eine Palette mit ausgehenden und rückverweisenden Links, einer Übersicht der verwendeten Tags und der Gliederung des Dokuments (Outline).
  • Beide Leisten lassen sich einklappen, was eine aufgeräumte Oberfläche mit wenig ablenkenden Elementen ergibt.
  • Obsidian ist über Plugins erweiterbar. Ob die für den aktuellen Tag terminierten Daily Notes, Kanban, Mathe oder Wortzähler; es gibt über 600 Möglichkeiten, die App zu erweitern.
  • Die App hat vielfältige Darstellungsmöglichkeiten: Das Fenster lässt sich horizontal und/oder vertikal teilen: Das gleiche Dokument kann als Markdown-Quelltext und als Vorschau dargestellt werden.
  • Die Command Palette (Ctrl p) ist eine Art Eingabeaufforderung, die die klassische Menüleiste ersetzt und Zugriff auf das umfangreichen Repertoire an Befehle gewährt.
  • Es gibt die Möglichkeit, Notizen als Website zu veröffentlichen; natürlich auch unter einer eigenen Domain. Dazu dient die Publish-Funktion.

Fussnoten

1) Die zu einem «Vault» gehörenden Dateien werden offen im ausgewählten Ordner gespeichert, wobei es ein (auf manchen Plattformen unsichtbaren) Ordner .obsidian gibt, in dem sich die Metadaten befinden.

Beitragsbild: Man kann sich sein Hirn natürlich auch um den Hals hängen (Shvets production, Pexels-Lizenz).

One thought on “Eine App fürs Zweit-Gehirn

  1. Vielen Dank für den interessanten Artikel über Obsidian.

    Ich war im Frühling auf der Suche nach einer neuen Lösung für meine Notizen. Ich stellte eigentlich von Evernote zu einem guten Teil auf Notion um. Mehr aus Neugier schaute ich mir auch Obsidian an. Anfangs einfach als Markdown Editor in Ergänzung zu Notion.

    Je länger ich mich damit befasste, je mehr Möglichkeiten taten sich auf. Inhalte von Websites als Markdown lokal abspeichern, Todos verwalten, Kalenderfunktionen, kleinere Projektplanungen etc. etc. dda. Vieles ist auf einfache Art möglich. Und zwar nicht, weil Obsidian ein riesen Monster Paket ist, das alles mitbringt, sondern weil es sich flexibel an meine Bedürfnisse anpasst.

    Ein weiterer Punkt ist, dass sich Obsidian super einfach mit Filejuggler automatisieren lässt. (Apple User nehmen analog Hazel). Dank der Verwendung von Markdown Files können die einzelnen Notizen auch mit anderen Editoren (Typora, Notepad++ und andere) prima editiert werden.

    Es lohnt sich bei Obsidian, mal ein bisschen tiefer hereinzuschauen. Die Qualitäten offenbaren sich erst nach und nach im Gebrauch.

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