Gesunder Menschenverstand statt KI

Bei Audible und Amazon kann man seinen Lieb­lings­autoren folgen. Das ist eine in Ansätzen nütz­liche Funk­tion – die das Einge­ständ­nis bein­hal­tet, dass die tollen Vor­schlags-Algori­thmen doch nicht so toll sind.

Audible bzw. Amazon hat vor ein paar Tagen die Möglichkeit eingeführt, einem Autor zu folgen: Wir suchen in der App oder auf der Website nach einem seiner Titel, tippen oder klicken auf den Namen. Daraufhin gelangen wir zur Autorenseite, auf der wir den Follow-Knopf betätigen.

Oder, noch einfacher: Wir öffnen in der App die Rubrik Bibliothek und wählen in der obersten Liste Autoren. In der Liste sehen wir alle Autoren, von denen wir Hörbücher besitzen und können die gewünschten auswählen, um sie zu abonnieren.

Die Abos sind auf bei Audible dieser Seite einzusehen. Und da es eine gemeinschaftliche Funktion für Amazon und den Kindle ist, existiert auch eine entsprechende Seite bei Amazon.

Das ist eine nette Neuerung. Zumindest auf den ersten Blick – wenn man genauer hinschaut, könnte man sie auch für unausgereift halten. Aber dazu komme ich gleich noch.

Die Grundidee erweckt jedenfalls den Eindruck, als ob der Hörbuchverlag eine wichtige (und seit 27 Jahren überfällige) Beobachtung gemacht hätte: Nämlich die, dass Leserinnen und Leser Lieblingsautoren haben, von denen sie jedes oder fast jedes Buch lesen. Mit anderen Worten: Wenn einer dieser Lieblingsautoren ein neues Werk schreibt, dann ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass eingefleischte Leserinnen und Leser auch das kaufen und lesen werden. Darum ist es sowohl für den Hörbuchverlag als auch für die Leserschaft sinnvoll, wenn ersterer die letzteren unverzüglich über eine Neuerscheinung informiert.

Naheliegender geht es fast nicht mehr

Wie zuvor besprochen: Diese Erkenntnis ist seit 27 Jahren – nämlich seit der Gründung des Hörbuchverlags im Jahr 1995– überfällig. Denn er eröffnet die einfachste und naheliegendste Methode, um Leser neuen Lesestoff zu vermitteln.

Mehr als eine simple Benachrichtigung wäre hier schon noch herauszuholen.

Aber er war bislang wohl einfach zu wenig fancy: Stattdessen hat man im Hause Amazon auf den elaborierten Vorschlags-Algorithmus gesetzt. Der passt viel besser zu einem Hightech-Unternehmen: Denn weil man als Kunde nicht weiss, wie der Algorithmus funktioniert, könnte man zum Schluss kommen, ihn für magisch zu halten. Denn wir erinnern uns ans dritte Clarkesche Gesetz von Arthur C. Clarke: «Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden».

In dieses magische Horn bläst Amazon noch heute gern, nämlich in Blogposts wie The history of Amazon’s recommendation algorithm, mit dem sich der Konzern selbst feiert:

Im Jahr 2017, als die Fachzeitschrift «IEEE Internet Computing» ihr zwanzigjähriges Bestehen feierte, beschloss die Redaktion, jene Veröffentlichung zu ermitteln, die den «Test der Zeit» am souveränsten bestanden habe. Die Auszeichnung ging an eine Arbeit aus dem Jahr 2003 mit dem Titel «Amazon.com Recommendations: Item-to-Item Collaborative Filtering», von den damaligen Amazon-Forschern Greg Linden, Brent Smith und Jeremy York.

Immerhin: Es geht nicht nur um Selbstbeweihräucherung. Wir erfahren tatsächlich einige Details über diesen berühmten Algorithmus:

Der bessere Weg war, Produktempfehlungen nicht auf Ähnlichkeiten zwischen Kunden, sondern auf Korrelationen zwischen Produkten zu basieren. Bei der benutzerbasierten kollaborativen Filterung würde ein Besucher von Amazon.com mit anderen Kunden zusammengebracht, die eine ähnliche Kaufhistorie haben, und diese Kaufhistorie würde Empfehlungen für den Besucher vorschlagen.

Auch die weiteren Überlegungen in diesem Blogpost sind lesenswert.

Den Test der Zeit bestanden: wirklich?

Dennoch kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass der «Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch …»-Ansatz den Test der Zeit anders als behauptet nicht gut überstanden haben, sondern heute überholt wirkt: Wir Nutzerinnen und Nutzer wurden inzwischen eine ausreichend lange Zeit mit diesen Algorithmen konfrontiert, dass wir ihre Schwächen wahrgenommen haben. Wir wissen, wie viele tolle Bücher uns der Algorithmus nicht vorgeschlagen hat – und wie viele der Vorschläge sich als Rohrkrepierer erweisen. (Das gerade auch bei Netflix.)

Die neue Funktion bei Audible, mit der wir Autoren folgen können, scheint mir ein stilles Eingeständnis dieser Erkenntnis zu sein. Denn gerade bei Neuerscheinungen funktioniert der klassische Vorschlags-Algorithmus nicht: Ein Buch, das noch von niemandem gekauft worden ist, kann von einem Algorithmus, der auf der Verkaufshistorie basiert, nicht vorgeschlagen werden.

Darum wäre die interessante Frage: Arbeitet jemand ernsthaft an einer Software, die versucht, nicht oberflächlich anhand des Interesses der Kundschaft «Verwandtschaften» zu ermitteln, sondern Werke inhaltlich in Verbindung bringt? Der Ansatz liegt auf der Hand: Eine inhaltliche Analyse eines Buchs könnte auf Themen, Figuren, Stimmung und Sprache abheben – und einem weiterhelfen, wenn man ein Buch mit einem bestimmten «S0und» lesen möchte. Es gab mit Moodagent den Versuch, das bei der Popmusik zu tun, doch da die Website inzwischen offline ist, würde ich vermuten, dass er gescheitert ist.

Ausbaufähig

Solange das nicht funktioniert, ist eine «Folge deinen Lieblingsautoren» zwar eine bescheidene, aber nicht zu vielversprechende und unkomplizierte Methode, um an neue Bücher heranzukommen. Klar: Sie funktioniert nur dann, wenn die Lieblingsautoren auch neue Bücher schreiben. Falls sie das nicht tun, gibt es bedauerlicherweise keine Empfehlungen.

… aber immerhin könnte Audible auch Autoren vorschlagen, die zu den genannten Lieblingsautoren passen. Diese Empfehlungen müssten nicht maschinell hergestellt werden, denn welche Autoren ähnliche Vorlieben bedienen, ist bekannt.

Also, eine sinnvolle Neuerung. Zu der ich, wie eingangs angedeutet, noch einige Kritikpunkte habe:

  • Die Funktion scheint darauf ausgelegt, dass man Benachrichtigungen (via E-Mail!) zu einem neuen Buch erhält. Das ist gut und schön, aber ausgeklügelter wäre natürlich, wenn wir uns einen konsolidierten Feed mit einer chronologischen Liste der Veröffentlichungen unserer Lieblingsautoren würden ansehen können.
  • Die Bezeichnung Folgen erinnert an ein soziales Netzwerk, aber anscheinend hat die Funktion keinerlei soziale Komponenten; insbesondere keine Interaktionsmöglichkeit mit den Autorinnen und Autoren. Dabei hätte das Potenzial – selbst wenn Audible für den Anfang bloss auf die Social-Media-Accounts der dort aktiven Autorinnen verweisen würde.
  • Man kann bislang erst auf Audible.com Autoren folgen, bei Audible.de fehlt der Folgen-Knopf.

Beitragsbild: Das Buch ist okay, aber über die Hose müssen wir reden (Fabiola Peñalba, Unsplash-Lizenz).

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