Hier im Blog ging es immer mal wieder um die Kämpfe in den sozialen Medien. Zum Glück werden die nur intellektuell ausgetragen – denn wie schrecklich es ist, wenn Politik, frei nach Carl von Clausewitz, «mit anderen Mitteln ausgetragen» wird, sehen wir jeden Abend in der «Tagesschau». Zutiefst bedrückende Bilder, denen wir uns stellen müssen.
In meiner Wahrnehmung sind die Konflikte auf Facebook und Twitter nach der Abstimmung vom 28. November 2021 zum Covid-19-Gesetz zurückgegangen. Das eindeutige Resultat hat geholfen, die Fronten zu klären: 62 Prozent der Bevölkerung waren dafür, nur zwei Kantone (Schwyz und Appenzell Innerrhoden) waren dafür.
Doch mit dem Angriffskrieg von Russland gegen die Ukraine sind die Leute, die sich gegen die Corona-Massnahmen geäussert und teils auch das Virus selbst infrage gestellt haben, zurück. Zumindest der harte Kern, der für Argumente nicht empfänglich war: Er teilt nun Propaganda aus dem Kreml und betätigt sich als, wie Kollege Jürg Vollmer sagt, als Полезные идиоты, als nützlicher Idiot.
Flucht nach vorn
Nun, ich verstehe zu einem gewissen Grad, dass manche die Flucht nach vorn antreten: Die Desinformation russischer Prägung war schon während der Corona-Pandemie massgeblich; die «Tagesschau» hat am 5. November 2021 berichtet, der russische Staatssender «RT DE» sei «eine der wichtigsten Quellen für Corona-Leugner und Querdenker in Deutschland».
Aus Putins Sicht muss man anerkennen, dass das eine gelungene Radikalisierungsstrategie war. Ein Blick in die Geschichte lohnt sich: Wir erfahren nämlich, dass die «Troll-Armeen» schon 2003 erwähnt wurden und bereits nach 9/11 – bekanntlich eine der einflussreichsten Verschwörungstheorien – in die Meinungsbildung eingegriffen haben. Nach zwanzig Jahren geht die Saat auf, indem ein Полезные идиоты inzwischen bereit ist, mutmassliche Kriegsverbrechen zu decken. Wir, die wir stolz auf die Meinungsfreiheit sind, müssen uns vorhalten lassen, die Gefahr des systematischen Informationskriegs unterschätzt zu haben.
Nebenbei bemerkt finanzieren sich solche Quellen nach wie vor aus westlichen Werbegeldern, namentlich von Google. Das Monitoring-Unternehmen Newsguard (siehe hier) schreibt am 10. März 2022, Tech-Konzerne wie Google würden weiterhin Desinformationsseiten finanzieren, die russische Propaganda verbreiten:
Zahlreiche Webseiten, die Desinformationen über den Ukraine-Russland-Krieg verbreiten – darunter auch staatliche und mit Russland verbundene Propagandasender – erhalten weiterhin Werbeeinnahmen von Google und anderen Technologie-Giganten. Dazu gehören Webseiten, die ihre Finanzierungsquellen und ihre Eigentümer verbergen, die in Ländern wie Zypern registriert sind oder die sich im Besitz von Geschäftspartnern von Putin befinden. Sie sind Teil eines breiteren Ökosystems russischer Desinformation. In diesem entstehen desinformative Narrative oft auf Kreml-eigenen Webseiten und werden dann von einem Netzwerk von Webseiten verbreitet, die diese Meldungen aufgreifen und weiter veröffentlichen.
So schwierig diese Gefolgschaft zu begreifen ist: Die Corona-Leugner bewegten sich schon vorher in einem Umfeld, in dem sie nun die Propaganda erhalten, mit der sie ihr alternatives Weltbild stützen und nicht in die Verlegenheit kommen, sich mit der Möglichkeit auseinanderzusetzen, dass sie sich brutal getäuscht haben – bzw. gezielt in die Irre geführt worden sind.
Das wäre eine schmerzhafte Einsicht. Aber ist es besser, stattdessen Dinge zu verbreiten wie dieser Post hier? Der von einer Freundin auf Facebook verlinkte Beitrag bezieht sich auf das Massaker von Butscha und behauptet, die Bilder seien gefälscht bzw. inszeniert; man würde in Videos sogar sehen, wie «Leichen gewinkt und wieder aufgestanden wären».
Das ist das alte Märchen von den Crisis Actors (Als Attentat getarnte Theatershows), das zu den widerwärtigsten Dingen aus dem Arsenal der professionellen Lügenverbreitern.
Wer einmal angefangen hat, jeden Scheiss zu glauben…
Wer auch nur ansatzweise in Versuchung gerät, derlei Quatsch zu glauben – obwohl eine kurze Websuche zu der Quelle eine ausführliche Recherche von netzpolitik.org zutage fördern würde, die keinen Zweifel an dem Propaganda-Charakter von «Unser Mitteleuropa» lässt und man auf der Website hirnrissigen Quatsch wie den Artikel «Schweiz: Kinder werden in Schule zwangsweise homosexualisiert und müssen Geschlechter tauschen» – der sollte sich die eindrückliche Reportage von RTS-Journalist Sébastien Faure ansehen, der in Butscha war und dort mit Menschen gesprochen haben, die ihre Enkelkinder, Söhne und Brüder begraben mussten.
Seine Aussage ist unmissverständlich: «Sinnlos, eine Fälschung zu vermuten». Und wenn das immer noch nicht reicht, gibt es bei der «deutschen Welle» eine ausführliche Widerlegung: Faktencheck: Keine «lebenden Leichen» in Butscha.
Es bleiben für mich zwei Fragen. Erstens: Wird Facebook den Beitrag als Fakenews gemeldeten Beitrag löschen? Das ist bis jetzt nicht passiert – und darum ist es enttäuschenderweise nach wie vor so, dass die sozialen Medien die «Infodemie» nicht eindämmen, sondern sie befördern. Dazu passt auch eine Meldung von letzter Woche, wonach Facebook während sechs Monaten gefährliche Inhalte nicht nur nicht gebremst, sondern sogar an mehr Nutzer ausgeliefert hat, als es bei korrekten Informationen der Fall war.
Zweitens: Lohnt es sich überhaupt, mit Leuten befreundet zu sein, die für rationale Argumente nicht mehr empfänglich sind? Warum sollte man sich das antun und sie nicht stattdessen einfach entfreunden oder blockieren?
Entfreunden oder dagegenhalten?
Ich spüre den Impuls, mich selbst vor solchem Quatsch zu verschonen und die virtuelle Freundschaft zu kappen. Ich gebe dem Impuls aber nicht nach. Es erscheint mir wichtig dagegenzuhalten und den Leuten zu verstehen zu geben, dass die Botschaft falsch und ihre Haltung fragwürdig ist und sie sich fragen sollten, ob ihnen ihre Rolle als Полезные идиоты wirklich behagt. Die Urheber solcher Posts erreicht man meist nicht. Aber die Chancen stehen gut, dass Mitleser, die ideologisch noch nicht gefangen sind, ins Grübeln kommen. Und das allein ist den Aufwand wert.
Beitragsbild: Das sollte bei Facebook direkt beim Eingang stehen (Nick Fewings, Unsplash-Lizenz).