Auch in der zweiten Woche des Ukraine-Kriegs habe ich meine Gefühle nicht auf der Reihe – trotz einer im Radio ausgestrahlten Gruppentherapiesitzung, in der meine Nerdfunk-Mitstreiter und ich versucht haben, uns in einer Auslegeordnung Klarheit zu verschaffen. Das beseitigt das Gefühl der Hilflosigkeit nicht – aber das muss so sein. Denn wer nicht abgestumpft ist, kann angesichts von Krieg und Leid nicht einfach zur Normalität zurückkehren.
Diese Woche lag mir ein weiterer Stein auf der Seele. Im Beitrag Von Kriegsopfern erster und zweiter Klasse hat sich der Autor Emran Feroz auf dem Medienportal «Übermedien» über Rassismus in der Berichterstattung ausgelassen. Feroz sieht ihn überall, in allen Medien, von der BBC, ITV über den «Daily Telegraph» bis hin zum ZDF und ARD: «Bei so viel Rassismus und Ignoranz bleibt mir die Spucke weg», schreibt er.
Ein Vorwurf, den ich ernst nehme, wenn er von «Übermedien» kommt: Stefan Niggemeier, einer der Mitgründer, schätze ich seit Langem, auch wenn ich nicht immer mit ihm einverstanden bin. Darum hat der Vorwurf, den Emran Feroz erhebt, mich getroffen. Der Vorwurf setzt bei der Beobachtung an, dass sich die Menschen in Europa und der Welt über den Krieg in der Ukraine erschüttert zeigen, bei den Kriegen in Afghanistan und Syrien aber unberührt blieben.
Diese Beobachtung stimmt. Meine Erschütterung war nicht in allen Fällen die gleiche. «Unberührt» bin ich nicht, aber es lässt sich nicht leugnen, dass die Betroffenheit eine andere ist. Und ich verstehe, dass man das als tiefe Ungerechtigkeit empfinden kann – angesichts der Tatsache, dass Länder wie Polen Flüchtende aus der Ukraine in grosser Zahl aufnehmen, während vor wenigen Wochen Hilfesuchende aus Afganistan zurückgedrängt worden sind.
Die einen heldenhaft, die anderen erbärmlich und feig
Emran Feroz führt einige Belege auf, wie rassistisch gefärbt unsere Wahrnehmung der Opfer und des Konflikts sei. Er zitiert u.a. die Aussage des ukrainischen Generalstaatsanwalts David Sakvarelidze, der in einem Interview gesagt hat, er sei «emotional, weil europäische Menschen mit blauen Augen und blonden Haaren täglich von Putins Raketen getötet» würden. Und auch wenn Feroz einräumt, dass die Konflikte unterschiedliche Dimensionen haben, so sind sie sich doch so ähnlich, dass wir überall die gleiche Anteilnahme zeigen müssten – wenn wir uns nicht von unseren stereotypen und rassistischen Vorurteilen würden leiten lassen:
Die Ukrainer seien mutig und heldenhaft, die Afghanen feige und erbärmlich. Sie konnten ihr Land nicht gegen die Taliban verteidigen und würden nun nach Europa kommen, um hier zu vergewaltigen oder andere Verbrechen zu begehen. Ähnlich Töne werden angeschlagen, sobald es um den Krieg in Syrien geht.
An dieser Stelle hatte ich zwei Möglichkeiten: Entweder anzuerkennen, dass ich entgegen meiner eigenen Wahrnehmung ein verdammter Rassist und obendrein ein elender Heuchler bin, weil ich das bis jetzt nicht erkannt habe. Oder aber darüber nachzudenken, ob der Vorwurf womöglich doch zu kurz greift.
Ich habe mir mein Urteil nicht leichtfertig gebildet, und bin zum Schluss gekommen, dass letzteres der Fall ist. Im Kern besagt der Rassismus-Vorwurf von Emran Feroz, dass es für die kritisierten Medien und für die Zuschauer, die sich nicht über die inkriminierten Aussagen empört haben, zweierlei Menschen gibt: Erstens diejenigen, die von Leid verschont bleiben sollten, weil sie «wie wir» sind. Und zweitens diejenigen, die «nicht wie wir sind» und deren Leid uns deswegen nicht kümmern braucht.
Sind wir im Kolonialismus stecken geblieben?
Wenn das so wäre, dann wären wir in einem kolonialistischen Rassismus stecken geblieben, in dem Sklaven gehandelt und Rechtlose als Arbeitskräfte ausgebeutet werden dürfen, weil uns deren Elend nicht interessiert und wir ihnen unsere eigenen Rechte absprechen.
Das tut aber nur eine unbelehrbare, rassistische Minderheit. Die Verfassungen europäischer Demokratien legen fest, dass Menschenrechte universell gelten. Die meisten Europäer stehen hinter dieser Sichtweise. Sie sind davon überzeugt, dass das Konzept, Menschen in Rassen einzuteilen, überholt ist und auf den Müllhaufen der Geschichte gehört. Es dürfte nicht viele grosse Medienhäuser geben, in dem ein Journalist Karriere macht, der sich offen abweichend äussert.
Damit sind wir bei einer Frage, die zu beantworten mehr bringen würde, als weite Teile der Medienlandschaft unter einen Rassismus-Generalverdacht zu stellen: Wieso gibt es diese Unterschiede, wenn wir alle Menschen als gleich erachten?
Klar, bei einigen wird der Alltagsrassismus durchgebrochen sein. Vielleicht beim ukrainischen Generalstaatsanwalt David Sakvarelidze, dessen Aussage mehr als ungeschickt war. Vielleicht ist es auch kein Alltagsrassismus: Selbst ist er nicht blond, sondern braunhaarig. Über seine Augenfarbe bin ich mir nicht im Klaren; aber es scheint mir offensichtlich genug, dass das eine nicht zweckdienliche Überspitzung war, die vielleicht mit seiner Anspannung entschuldigt werden kann.
Auch sonst sind nicht alle Medienschaffenden ihren hehren Ansprüchen gerecht geworden. Deswegen sind nicht alle Rassisten. Es gibt weitere Erklärungen, weswegen die Anteilnahme für die Ukraine überproportional erscheint. Bevor ich darauf eingehe, fände ich es aber wichtig zu sagen, dass man, falls man Kritik übt, nicht die grosse Solidarität mit der Ukraine anprangern sollte, sondern, wenn schon, die fehlende Solidarität in anderen Konflikten.
Dass ich so auf Trab gehalten werde, liegt an der Dramatik der Ereignisse mit dem monatelangen Vorgeplänkel und dem Paukenschlag der Invasion. Die vergleichsweise Nähe – Kiew ist von Zürich genauso weit entfernt wie Athen oder Lissabon; nach Kabul ist es ein Vielfaches.
Wir schauen nicht von oben auf die Welt herab
Klar, dieses Argument ist so banal, dass ich mich kaum getraue, es hier anzuführen. Aber auch in einer globalisierten Welt bleibt die Nähe einer der wesentlichen Faktoren für den Nachrichtenwert. Doch dieser Massstab erklärt, weswegen die Aufmerksamkeit der Medien oft nicht mit der eigentlichen Bedeutung eines Ereignisses übereinstimmt – falls es nicht eh unmöglich ist, diese Bedeutung irgendwie zu objektivieren.
Auch meine Anteilnahme für eine Kleinigkeit, die meinen Nachbarn betrifft, ist grösser als eine riesige Ungerechtigkeit, die einem Menschen in einem fernen Land, in dem ich nie war, widerfahren ist. Das ist kein Rassismus, sondern eine Frage der Perspektive.
Darum fühlt sich die Haltung von Emran Feroz für mich so falsch an. Sie ist ein Beleg dafür, dass auch er der Einteilung in «wir» und «die» nicht entrinnen kann. Er macht auch nichts anderes als das, was er kritisiert. Er hat gute Gründe, aber es könnte auch ein Anlass sein zu erkennen, dass es verdammt schwierig ist, diesem Denkmuster zu entkommen.
Ich möchte an dieser Stelle lieber das Positive sehen. Die Tatsache, dass sich so viele ins Schicksal der Ukrainerinnen und Ukrainer hineinversetzen, ist eine Chance, das universelle Verständnis fördern, wie schlimm es ist, aus seiner Heimat flüchten zu müssen – egal, wo auch immer diese Heimat ist.
Beitragsbild: Polizist mit Panzern – Symbolbild aus dem November 2020 (Kris Møklebust, Pexels-Lizenz).