Mein Facebook-Freund Jürg und sein Hitler-Vergleich

Auf Facebook jagt ein grauenvoller Post den nächsten. Darüber könnte man ganz leicht abstumpfen. Ich mache aber das Gegenteil: Ich nehme mir Zeit darüber traurig zu sein, dass es so weit kommen konnte.

Beitragsbild: An diesem Tor sollte der Coronafrust auf eine verhältnismässige Grösse zusammenschrumpfen («Jedem das Seine», Lars K Jensen/Flickr.com, CC BY 2.0).

Meinen Facebook-Freund Jürg habt ihr im Beitrag Die tapferen Kämpfer gegen Zensur und Denkverbote kennengelernt. Es ging damals um einen Text vom «Die Ostschweiz»-Autor Stefan Millius, mit dem ich zwar nicht einverstanden war, aber über den man immerhin diskutieren konnte.

Heute hat Jürg wieder einmal einen Auftritt hier im Blog, weil er – ihr ahnt es sicher – wieder einmal etwas auf Facebook gepostet hat.

Sind Hitlervergleiche inzwischen völlig normal?

Im Unterschied zu seinem Beitrag von einem Jahr liefert er aber keine Grundlage mehr für eine produktive Diskussion, sondern postet ein Meme, das mich ratlos und traurig zurücklässt.

Über dieses Meme mag ich mich gar nicht gross auslassen. Es wurde anlässlich der Ernennung des neuen deutschen Bundesministers für Gesundheit in Umlauf gebracht und zeigt Karl Lauterbach mit Hitler-Schnauz und einer in Fraktur gesetzten Aufforderung zum Impfen.

Denken wir uns zwei oder meinetwegen fünf Jahre zurück. Hätte mein Facebook-Freund Jürg 2016 auf derart nonchalante Weise eine solche Abscheulichkeit in seine Timeline gestellt? Hätte er sie mit den Worten «eines von vielen Memes über KL, zur Abwechslung mal eines, das ihn ernst nimmt, statt sich über seine Zähne lustig zu machen» verteidigt, wie er es getan hat?

Die Hemmungen sinken und sinken weiter

Ich glaube nicht. Es gab zwar auch damals schon Leute, die aus Geschichtsvergessenheit, fehlendem Urteilsvermögen oder einer echten braunen Gesinnung Dinge von sich gegeben haben, die Überlebende der Nationalsozialisten und des Holocausts noch einmal zu Opfern machten. Aber ich bin überzeugt, dass die Hemmung damals eine viel grössere war. Heute kann man, wie Jürg es tut, den Eindruck entwickeln, man würde Leute mit einem Hitlervergleich wie diesem «ernst nehmen».

Und wieso auch nicht? Es gab keinen Aufschrei. Jürg wurde kaum in die Schranken gewiesen. Er wurde in zwei Kommentaren kritisiert und eine Frau hat ihn entfreundet. Aber mehr auch nicht. Denn man kommt in den sozialen Medien kaum mehr hinterher, sich über solche Dinge aufzuregen.

Eine Monstrosität jagt die nächste. Und jeder einigermassen aufgeklärte Bürger weiss, dass es abseits der grossen Plattformen noch viel härter abgeht. Das ZDF-Politmagazin «Frontal» spricht von Mordplänen auf Telegram. Marko Ković zeigt auf, wie zum Beispiel Michael Bubendorf vom Verein «Freunde der Verfassung» die Demokratie offen infrage stellt und wie in diesen Kreisen sogar von Bürgerkrieg die Rede ist.

Parallelgesellschaft und Bürgerkrieg

Lohnt es sich da, sich über ein solches Meme Gedanken zu machen und obendrein Energie in einen Blogpost zu stecken, so wie ich es tue?

Ich finde ja – und ich tue es aus vier Gründen:

Erstens ist das Meme ein Sinnbild dafür, wie massiv sich 2021 unser Umgang miteinander verschlechtert hat. Jürg hat früher keine solchen Memes gepostet. Heute tut er es, offenbar bedenkenlos. Er spielt das Spiel mit, in der eine Provokation eine grössere nach sich zieht und sich die Grenzen des Sagbaren immer weiter verschieben. (Wie das genau geschieht, habe ich im Beitrag «Wir sehen uns vor dem Kriegsgericht» aufgezeigt.)

Wunden lecken und Memes entsorgen

Zweitens zeigt das Meme, dass wir, wenn wir irgendwann aus dieser Pandemie herauskommen, viel Zeit und Mühe werden investieren müssen, unsere Wunden zu lecken und uns wieder näherzukommen. Wir werden uns irgendwie wieder darauf verständigen müssen, auf welche Weise wir miteinander umgehen. Und für mich gehört dazu, dass man keine solchen Hitler-Memes mehr postet.

Das jedenfalls ist das Szenario für den Fall, dass diese Sache hier eine positive Wendung nimmt. Falls die Zerrüttung weiter fortschreitet, dann werden die oben erwähnten Leute ihren Willen durchsetzen, die von Bürgerkrieg und Parallelgesellschaft fantasieren.

Drittens sind die sozialen Medien gescheitert, endgültig. Wir brauchen keine Plattform, wo wir uns solche Memes um die Ohren hauen. Vielleicht ist es nötig, dass die Vernünftigen bei Facebook einen Abgang machen. Vielleicht kommt Mark Zuckerberg irgendwann doch noch auf den Trichter. Oder einer erfindet eine soziale Plattform, die diesen Namen auch verdient. Keine Ahnung, aber so kann es nicht weitergehen.

Das Kernland der Querdenker

Der vierte Punkt ist derjenige, um den es mir hauptsächlich geht. Ich will meiner Trauer Ausdruck verleihen, wie weit es gekommen ist. Für mich steht dieses Meme in direkter Verbindung mit einem Artikel aus der «Der Spiegel», wonach Corona-Skeptiker eine KZ-Gedenkstätte attackieren. (Der Artikel steckt hinter der Paywall; eine frei zugängliche Zusammenfassung findet sich bei der «Aargauer Zeitung».)

In der KZ-Gedenkstätte Buchenwald wurde die 2G-Regelung eingeführt. Daraufhin ritten Impfgegner auf der vermeintlichen Ironie herum, dass sie nun Ausgegrenzte seien, die eine Ausstellung über Ausgrenzung nicht mehr besuchen dürften. Dass die eigentliche Tragik in der Unfähigkeit besteht, die Ungeheuerlichkeit dieser Gleichsetzung zu erkennen, entgeht diesen Protestlern, die die Gedenkstätte hernach mit Hunderten Mails und Kommentaren eindeckten. Diese Mails kamen, wie der Direktor der Gedenkstätte, Jens-Christian Wagner, erläutert, zu grossen Teilen aus der Schweiz. Der Spiegel zitiert ihn wie folgt:

Die meisten Mails kamen aus dem südwestdeutschen und Schweizer Raum, also aus dem Kernland der «Querdenker».

Den Corona-Frust verstehe ich. Ebenso die Tatsache, dass keine Einigkeit zu den Coronamassnahmen besteht. Doch wie die Leute dann die gedankliche Verrenkung hinbekommen, sich plötzlich mit Opfer der Nationalsozialisten gleichzustellen, das will mir nicht in den Kopf. Im «Spiegel»-Artikel liest sich das so:

Aus Sicht von «Querdenkern», Rechtspopulisten und Verschwörungstheoretikern ist das alles vergleichbar: die Mordfabrik einer Diktatur mit einem Quarantänezentrum in einer Demokratie. Staatliche Massendeportationen von Juden mit parlamentarisch beschlossenen, vorübergehenden, ungefährlichen Einschränkungen für Ungeimpfte.

Ich halte das für eine schreiende Ungerechtigkeit gegenüber denjenigen Menschen, denen diese Gedenkstätte gewidmet sind und die echte Verfolgung erfahren haben. Was müssen die von uns und unserer Generation denken? Dass ihr Leid umsonst war, wo es heute Leute gibt, die unwillens oder unfähig sind, daraus die einfachsten Lehren zu ziehen?

Worauf man ein Anrecht zu haben glaubt

Und im Gegensatz dazu die Dankbarkeit, die ich am letzten Wochenende im Gespräch von Roger Schawinski mit dem Kunstsammler Werner Merzbacher gehört habe. Dessen Eltern sind in der Reichspogromnacht 1938 verhaftet und über das KZ Dachau ins Vernichtungslager Lublin-Majdanek gelangt, wo sie umgebracht wurden.

Es war in dieser Sendung spürbar, wie wichtig es Merzbacher ist festzuhalten, dass sein Überleben eine Frage des Zufalls oder Glücks und ganz sicher keine Selbstverständlichkeit war. Diese Demut sollte man als Hörer auf sich wirken lassen – und als eine Gelegenheit wahrnehmen zu hinterfragen, worauf man alles ein Recht zu haben glaubt.

2 Kommentare zu «Mein Facebook-Freund Jürg und sein Hitler-Vergleich»

  1. Es gibt Sachen, die gehen nicht. Und in Deutschland erst Recht nicht! Herr Lauterbach macht sich jedoch auch selbst zur Zielscheibe. Kürzlich hat er getwittert, dass Deutschland hat die höchste Corona-Inzidenz in Europa hätte. Dabei haben mehrere Nachbarländer, u. a. Österreich und die Niederlande höhere Inzidenz-Zahlen. Das ist natürlich nichts, worauf man stolz sein kann. Aber wie kommt er dazu solche Behauptungen aufzustellen? Zählt er etwa die Niederlande zu Deutschland? Mich würde es nicht wundern, wenn in Kürze entsprechende Memes auftauchen, die darauf Bezug nehmen.

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