Als Teenager hatte ich eine Phase, in der ich intensiv Tagebuch geführt habe. Natürlich, wie sich das für die 1980er-Jahre gehört, in analoger Form, sodass die von Gefühlsaufwallungen und adoleszentem Rebellentum geprägten Aufzeichnungen sicher verschlossen in einem Schrank ruhen: Auf dass ich sie mir als alter Mann, die verlorene Jugend beweinend, zu Gemüte führen werde – oder sie ungelesen verbrenne.
Der Idee von Tagebuchaufzeichnungen bin ich auch heute nicht abgeneigt. Aber ich würde es nicht mehr so angehen wie damals, wo ich mich in langen, und, wie ich befürchte, oft auch reichlich selbstmitleidigen Schilderungen verloren habe. Dafür fehlt mir die Geduld. Aber wichtige Ereignisse, Gedanken und Ideen festzuhalten – das fände ich nicht verkehrt.
Doch auch damit bin ich bislang gescheitert: Der hauptsächliche Grund ist natürlich aus Zeitmangel. Die passenden Apps gäbe es nämlich dafür. Im Beitrag Liebes digitales Tagebuch… habe ich einerseits Day one vorgestellt: Das ist das digitale Äquivalent des klassischen Tagebuchs, in das man seine Gedanken in freier Form einträgt.

Im gleichen Beitrag kommt auch 1 Second Everyday zum Zug: Bei der ist die Idee, dass man täglich einen Bildschnipsel aufnimmt, der über die Zeit das Leben dokumentiert. Auch das eine interessante Sache, die ich aber bislang nicht mit der nötigen Disziplin verfolgt habe.
Darum geht es heute um Daylio. Die App gibt es für iPhone und iPad und Android. Sie ist kostenlos, mit Freemium-Modell. Die Pro-Funktionen mit unbegrenzten Erinnerungen, Stimmungen und Zielen, plus PIN-Sperre kostet im Monat drei Franken oder jährlich 24 Franken.
Strukturiert, vielleicht auch etwas technokratisch

Die App hat einen strukturierten Ansatz, den böse Zungen technokratisch nennen würden. Dazu erfasst man Daten, die die App statistisch auswerten kann. Diese Bereiche deckt die App ab:
- Stimmung: Die gibt man mit einem von fünf Emojis an, wobei man beim ersten Start die Emojis aus mehreren Sätzen und Farbpaletten auswählt.
- Aktivitäten: Zur Auswahl stehen soziale Aktivitäten, Hobbys, Schlaf, Ernährung, Gesundheit, Selbstentwicklung (Mediation, Nettsein, Zuhören) und den Haushalt, wovon man tracken kann, was einem wichtig ist.
- Ziele: Wenn man will, kann man sich auch Vorgaben machen und angeben, was davon man erfüllt hat und was nicht. Zu den Zielen gehören Training, früh schlafen gehen, Wasser trinken, gesund essen, Meditation und Lesen.

Als Zyniker würde man sich fragen, warum hier die Punkte kein Komasaufen sowie Frau und Kinder verprügeln fehlen.
Nein, im Ernst: Wie man diesen Zielen gegenübersteht, hängt natürlich davon ab, wie man der Idee der Selbstoptimierung gegenübersteht. Ich habe meine Mühe damit (siehe Hold my beer, während ich diese App benutze), aber finde Apps, die mich an gewisse Dinge erinnern, ohne ein spirituelles Trara darum zu veranstalten, nützlich. Meine App zur Aufzeichnung meines Trinkverhaltens nutze ich nach wie vor gern (Wasser statt Wein predigen (und trinken)).
Sich ans Tagebuch erinnern lassen
Zur Einrichtung gehört, dass man angibt, ob einem die App täglich daran erinnern soll, dass man seinen Eintrag erfassen müsste. Ich habe das einmal eingerichtet, wobei ich als Zeitpunkt kurz vor dem Schlafengehen gesetzt habe. Das scheint mir ein guter Moment, um den Tag kurz Revue passieren zu lassen und ein paar Angaben zu tätigen.

Die App fragt dann nach der generellen Stimmung, die man über die besagten Emojis dokumentiert. Dann dokumentiert man, was man gemacht hat, indem man in den ausgewählten Bereichen Icons antippt, zum Beispiel Familie, Freunde, Date oder Party bei soziale Aktivitäten oder Kino & TV, Lesen, Zocken, Sport und Entspannen bei Hobbys.
Über das Plus-Symbol ergänzt man bei den einzelnen Gruppen Einträge und kann zum Beispiel unter Aktivität ein Symbol hinzufügen, das man antippt, wenn man ein Vorzeige-Elternteil war. Wie oben angedeutet, sind die Erweiterungsmöglichkeiten bei der Gratisversion beschränkt – für spezifische Anpassungen kommt man um das App-Abo nicht herum.
Auch Notizen und Fotos darf man hinzufügen
Um die erfüllten Ziele zu dokumentieren, braucht man ebenfalls nur das passende Icon anzutippen. Man darf, wenn man will, auch einige Notizen erfassen und Fotos hinterlegen.
Einen solchen Eintrag zu erfassen, dauert höchstens eine Minute – wenigstens dann, wenn man sich auf die Icons beschränkt und keine längeren Notizen hinzufügen will. Der Zeitaufwand im Vergleich zum klassischen Tagebuch ist gering, was die Hürden für die regelmässige Verwendung deutlich senkt.
Es bleibt trotzdem die Frage, welchen Erkenntnisgewinn man sich erhofft, wenn man sich täglich Zeit nimmt – auch wenn es nur eine Minute ist. Das lässt sich natürlich nicht allgemein beantworten.
Aber ich denke, wenn man sich seine allgemeine Verfassung vor Augen führen oder gewisse Aktivitäten, Ereignisse oder auch die Gefühlslage über die Zeit verfolgen will, dann ist die App dafür ein gutes Instrument. Auch das Verfolgen gewisser Ziele ist möglich – und bei Daylio mit weniger Leistungsdruck verbunden als bei einer App wie Streaks (siehe hier).
Für Daten-Fans spannend – aber leider zu wenig interoperabel

Die App wertet die eingegebenen Informationen in Statistiken und Grafiken aus. Da ich mit Daylio eben erst losgelegt habe, ist bei mir noch nicht sehr viel zu sehen. Ich kann mir aber gut verstellen, dass das auf die Dauer interessant wird. Die Daten, die zum Beispiel meine Fitness-Uhr erhebt, sind je spannender, desto weiter zurück sie reichen, weil sie eine Entwicklung über eine längere Zeit aufzeigen. Und erstaunlicherweise stimmt der Stress-Wert, den die Uhr selbsttätig ermittelt, akkurat mit meiner eigenen Wahrnehmung überein.
Also, eine gelungene App. Wie immer kritisiere ich, dass die Daten in einer Art Silo stecken und keine Querverbindungen möglich sind, zum Beispiel mit den Daten aus der Fitness- oder der Health-App oder meinetwegen auch mit Timehop (Die App für gute und schlechte Erinnerungen). Ich sehe jedenfalls ein Potenzial für interessante Korrelationen zwischen der Laune und den Aktivitäten in den sozialen Medien…
Beitragsbild: So war das Tagebuchschreiben früher – stilvoller als heute, oder etwa nicht? (Alina Vilchenko, Pexels-Lizenz)