Die Untergangsspirale brechen

Die sozialen Medien tragen derzeit zu einer rasanten Eskalation bei. Ich mache mir einige hilflose Gedanken, wie man diese Entwicklung aufhalten oder bremsen könnte.

Während die Pandemie fortschreitet, ist das Verweilen in den sozialen Medien nicht angenehmer geworden. Der Umgangston hat sich verschärft, die Wogen gehen ständig hoch und man wird den Eindruck nicht los, dass manche Leute das Mass völlig verloren haben.

Ich teile die Ansicht von Reda el Arbi im Blogpost Dieser «Spaltung der Gesellschaft»-Bullshit, dass es eine Minderheit ist, die die Diskussion bestimmt, weil sie sich pausenlos und immer extremer äussert.

Allerdings sehe ich auch Leute, die sich geistig in gefährliche Kaninchenbauten verkrochen haben. Das hier ist ein solches Beispiel:

Hier eine interessante Einschätzung vom bekannten forensischen Psychiater Frank Urbaniok dazu. Daraus zwei Zitate:

Das Statement enthält eher «passive Drohungen» (würde sich freuen, wenn andere … würde (erst) selbst reagieren, wenn seine Kinder angegriffen würden) – ist aber nur ein Element einer Analyse. 5. Es ist schlecht, wenn solche Leute durch Agitatoren weiter aufgehetzt werden.

Und:

Es schadet der Demokratie und ist gefährlich, wenn Politiker und andere öffentliche Person in den sozialen Medien hemmungslos diffamiert, beschimpft, bedroht und damit zur Zielscheibe gemacht werden.

Gedankenlose, fahrlässige und ignorante Postings

Das bringt das Problem auf den Punkt. Die sozialen Medien drehen ständig an der Spirale. Das Resultat ist sichtbar: Und auch wenn es, wie oben erwähnt, nur eine Minderheit ist, so ist es trotzdem erschreckend, dass es in manchen Kreisen anscheinend völlig salonfähig geworden ist, Politiker als «Problem» darzustellen, das notfalls mit Gewalt beseitigt werden darf und muss.

Wie die vielen ablehnenden Kommentare zeigen, kommen solche Nazivergleiche auch von Leuten, die längst nicht in eine Schwurbler-Bubble abgedriftet sind.

An dieser Eskalation beteiligen sich auch Leute, die es besser wissen müssten – mit Posts, die der Sache in keinster Weise dienlich sind. Da postet einer auf Facebook die Abbildung eines Gesundheitspasses aus dem dritten Reich und schreibt dazu «Nur so zur Erinnerung. (Ich ziehe hiermit keinen direkten Vergleich!)»

Es tut mir leid, aber genau das tut er natürlich. Er fügt der Reihe der unsinnigen Nazivergleiche (siehe hier und hier) einen weiteren hinzu und stellt die Massnahmen gegen die Pandemie, die keinerlei Zwang beinhalten, auf die gleiche Stufe mit der Medizin im dritten Reich, die insbesondere Zwangssterilisationen legitimiert hat.

Wie man so etwas tun kann, wenn man – wie der Autor schreibt – Eltern hat, die unter Mussolini aufgewachsen sind, entzieht sich meinem Verständnis.

Dieser Vergleich lässt sich auch mit dem häufig bemühten Wort, man müsse den Anfängen wehren, nicht legitimieren. Er macht nämlich das Gegenteil von dem, was er vorgibt: Er reisst die Naziverbrechen aus dem Zusammenhang und entwertet die Erinnerung daran. Und genau das erhöht die Gefahr, dass sie sich wiederholen.

Wenn Amateure an rhetorischen Kniffen scheitern

Polemik, Provokation und Übertreibung sind schöne rhetorische Mittel, die man effektiv einsetzen kann. Aber es braucht Verantwortungsbewusstsein und auch ein Können, diese Mittel richtig einzusetzen.

Was wir derzeit erleben, ist eine Überbeanspruchung dieser Methoden durch Brandstifter und Amateure, die meines Erachtens auch meistens überhaupt nicht in der Lage sind, zwischen einer faktischen Aussage und einem rhetorischen Mittel zu unterscheiden. Wenn Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher in der NZZ todernst verkündet, der Bund habe eine Diktatur eingeführt und ihr das hinterher tausendfach nachgebetet wird, dann ist das eben keine Rhetorik mehr, sondern eine Beschädigung der Demokratie.

Ich habe früher gern auch mit völlig überzogenen Vergleichen operiert – einfach, weil es Spass macht und oft auch erhellend ist. Dieses Stilmittel werde ich mir wohl ans Bein streichen müssen.

Es gehört zu den Opfern der Pandemie, genauso, wie der einstmals positiv besetzte Begriff des Querdenkers. Wenn wir eine Chance haben wollen, die sozialen Medien wieder zu de-eskalieren und die Sachlichkeit zurückzubringen, dann müssen wir vorexerzieren, dass Dinge genauso gemeint sind, wie wir sie schreiben oder sagen – und ein Covid-Zertifikat eben nicht  𝔊𝔢𝔰𝔲𝔫𝔡𝔥𝔢𝔦𝔱𝔰𝔭𝔞𝔰𝔰 nennen, nur weil damit unser Unwohlsein mit diesem Instrument so schön zur Geltung kommt.

Die Schwurbler freundlich auf ihre Medien-Inkompetenz hinweisen

Ich denke, wir müssen noch ein paar Dinge mehr tun. Meine Erfahrung aus vielen sozialmedialen Diskussionen mit Skeptikern, Corona-Leugnern, Impfgegnern und Schwurblern hat mir gezeigt, dass es bei manchen mit der Medienkompetenz nicht weit her ist. Diese Trugschlüsse sind mir am häufigsten begegnet:

  • Korrelation wird mit Kausalität verwechselt.
  • Leute verbeissen sich sosehr in einzelne Unstimmigkeiten, dass sie nicht mehr in der Lage sind, das grosse Ganze wahrzunehmen.
  • Zahlen und vor allem Wahrscheinlichkeiten sind für manche Leute nicht einzuordnen.
  • Die eigene Betroffenheit – man könnte es härter auch den eigenen Egoismus oder die Wohlstandsverwahrlosung nennen – wird nicht hinterfragt, sondern verabsolutiert.

Diese Punkte lassen sich in der Diskussion ansprechen. Und ja, manchmal wirkt man oberlehrerhaft dabei, und man fühlt sich höchst unwohl in dieser Rolle. Aber es ist sinnvoll, die Diskussion weg von den vermeintlichen Fakten auf diese Meta-Ebene zu lenken und den Leuten ihre Methode zu reflektieren. Bei manchen habe ich auch schon die Vermutung in den Raum gestellt, dass sie ein Doomscrolling-Opfer sind – so nennt man Phänomen, wenn Leute von schlechten Nachrichten gar nicht mehr genug bekommen können. Ob es hilft? Ich weiss es nicht. Aber es scheint mir einen Versuch wert.

Beitragsbild: Sie scheint eine Massnahmenkritikerin und Impfgegnerin zu sein (Noelle Rebekah, Unsplash-Lizenz).

3 Kommentare zu «Die Untergangsspirale brechen»

  1. Ich bin zuweilen auch fassungslos ob der Faktenresistenz vieler „Skeptiker“. Argumentieren ist extrem schwierig, wenn ein YouTube-Video, in welchem irgend einer erzählt, er habe schon vor Jahren Merkel und Gates zusammen gesehen, gleich viel Stellenwert besitzt wie eine Forschungsarbeit.

    Aber ich glaube, man sollte trotzdem immer versuchen, freundlich und sachlich zu bleiben. Diesbezüglich bin ich anderer Meinung als der Autor des im zweiten Absatz verlinkten Blogs. Dieser reagiert in Diskussionen auf Twitter häufig spätestens mit dem zweiten Beitrag mit Beleidigungen. Kann man lustig finden, ich halte es für eher infantil.

  2. Der Beitrag fasst die Situation sehr treffend zusammen! Eine geeignetes Rezept zur Auflösung dieser Abwärtsspirale zu finden, dürfte allerdings schwierig sein, solange viele Personen den gesunden Menschenverstand völlig vergessen und irgendwelchen Demagogen auf den sozialen Medien viel mehr Glauben schenken als seriösen Wissenschaftern und Fachleuten. Dass es aber für Volksverhetzer viel einfacher geworden ist, ihre kruden Verschwörungstheorien und teilweise pathologischen Ansichten in vielen Themenbereichen an ein Publikum zu bringen, das diese Ansichten dann unbesehen und ohne Sinn und Verstand übernimmt – ein anschauliches Beispiel aus jüngerer Vergangenheit, das zeigt, wohin das führt, war ja die Präsidialära von Donald Trump in den USA – so gesehen sind die social Media in vielen Fällen mehr Fluch denn Segen.

  3. Sehr guter Anstoss zur Diskussion. Was ich schon immer vermisst habe bei den Impfgegnern, ist die Unfähigkeit, mit Wahrscheinlichkeiten umzugehen. Wenn ein Ereignis 70% Wahrscheinlichkeit hat, dass es eintritt, ist das nicht das gleiche, wenn es mit 0,01 % eintritt. Das weiss jeder Hausarzt, und der ist sicher bereit, seinen Patienten das zu erklären.
    Anderes Thema ist, dass man viele andere Regeln ganz selbstverständlich akzeptiert, ohne „Freiheit“ zu rufen.

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