Die tapferen Kämpfer gegen Zensur und Denkverbote

Mein Facebook-Freund Jürg hat einen Text von «Die Ostschweiz» geteilt. Sie behauptet, man dürfe das Coronavirus und die Influenza nicht im gleichen Atemzug nennen. Aber stimmt das?

Auf Facebook liest man oft die Behauptung, die freie Meinungsäusserung sei eingeschränkt – man könne auf Facebook «nicht mehr sagen, was man wolle». Auch von Zensur ist oft die Rede.

Das amüsiert und irritiert mich gleichermassen. Amüsant finde ich die Tatsache, dass die Leute komplett ignorieren, wie widersinnig ihre Behauptung ist. Wenn jemand sie zensurieren würde, dann würde er logischerweise auch den Zensurvorwurf unterbinden. Das müsste auf der Hand liegen.

Irritierend ist, dass die Leute nicht verstehen, was Zensur und Einschränkung der freien Meinungsäusserung bedeuten. Es bedeutet, dass der Staat gewisse Ansichten unterdrückt – wie es die Chinesen mit dem «goldenen Schild» tun. Soziale Netzwerke gibt es dort nicht oder nur in ausgedünnter Form.

Ein zentrales Element dieser Zensur ist die Gefahr, der sich Leute aussetzen, die die explizit oder implizit verbotenen Themen trotzdem ansprechen. Sie laufen Gefahr, im Gefängnis zu landen oder zu verschwinden. Deniz Yücel hat das erlebt und im «Fest & flauchig»-Podcast eindrücklich davon erzählt.

Halten wir fest:

Es gibt bei uns keine Zensur

Es gibt hierzulande keine Zensur. Jeder darf im Internet sagen, was er will, die Meinungsfreiheit ist gewährleistet.

Zu berücksichtigen ist, dass sie gesetzlichen Grenzen unterworfen ist. Die sind bei Wikipedia umrissen und stellen für den typischen Facebook-Post kein Problem dar. Denn auch wenn manche Leute offenbar der irrigen Meinung anhängen, Facebook sei dazu erfunden worden, dass sie andere beschimpfen und dumm hinstellen können, so lassen sich die allermeisten Diskussionen auch führen, ohne dass es zu Beleidigungen und Verleumdungen kommt.

Wenn hierzulande davon die Rede ist, die Meinungsfreiheit sei eingeschränkt, dann bezieht sich diese Klage auf den Umstand, dass Ansichten nicht unwidersprochen bleiben. Es gibt Leute, die anderer Meinung sind und das zum Ausdruck bringen. Es kann auch passieren, dass Leute mit kontroversen Ansichten entfolgt oder blockiert werden. Aber das ist keine Zensur – denn jeder Mensch hat auch das Recht zu entscheiden, was er sich anhört und was nicht.

Und ja: Es kann unerfreuliche Folgen haben, wenn man sich zu weit aus dem Fenster lehnt. Es kann sein, dass andere nichts mehr mit einem zu tun haben wollen. Ich glaube, das Beispiel stammt von Reda el Arbi, und es trifft die Sache ganz gut: Wenn man in seiner Lieblingsbeiz ständig die Leute anpöbelt, kann es sein, dass man Hausverbot bekommt.

Wer sich exponiert, macht sich angreifbar

Umgekehrt verprellt man als Geschäftsmann, der kontroverse Ansichten öffentlich äussert, womöglich Kunden. Das Beispiel dafür ist Chocolatier Läderach, der als Abtreibungsgegner damit leben muss, dass die Fluggesellschaft Swiss ihren Passagieren andere Pralinés angeboten hat. Das ist keine Cancel Culture, sondern das gute Recht der Kunden zu entscheiden, was sie mit ihrem Geld anstellen.

Ein Schlamassel ist es auch, sich mit solchen Posts auseinandersetzen zu müssen.

Mit dieser Vorrede bin ich nun beim eigentlichen Thema angelangt: Das ist ein Beitrag, der mein Facebook-Freund Jürg neulich geteilt hat. Er stammt von der Zeitung «Die Ostschweiz» und von Autor Stefan Millius. Er trägt den Titel: «Wir stellen vor: Die ganz ‹banale› Grippe», und man könnte ihn hier lesen.

Der Autor fängt seinen Text mit der Behauptung an, die wir eben auf ganzer Breite widerlegt haben – nämlich die, dass es verboten sei, sich über gewisse Themen auszulassen:

Der Text, der hier gleich folgt, hätte nie geschrieben werden dürfen. Denn früh in der Coronadebatte zeichnete sich ab, dass Vergleiche zwischen Covid-19 und der Influenza nicht zulässig sind. Das geht inzwischen so weit, dass die beiden Begriffe – sogar wenn nicht vergleichend – nicht einmal im selben Artikel oder Beitrag in den sozialen Medien erscheinen dürfen.

Ich vermute, dass Millius nicht andeuten will, sein Text sei im rechtlichen Sinn verboten. Es geht wohl eher um das, was in solchen Kontexten jeweils als «Denkverbot» bezeichnet wird. Unterstellt wird, es würden keine Ansichten geduldet, die von der «Lehrmeinung» abweichen.

Wenn man sich getraut, über diese Behauptung nachzudenken, dann landet man unweigerlich bei einigen schwer zu beantwortenden Fragen: Wer definiert diese Lehrmeinung? Wer setzt sie durch? Wer verhängt Denkverbote? Und wie gelangen diese Denkverbote in die Allgemeinheit, sodass sich alle daran halten können?

Es herrscht keine Meinungsdiktatur

Es ist natürlich viel banaler: Es gibt keine «Lehrmeinung», sondern einfach Ansichten, die für viele Leute einleuchtend sind und sich deswegen durchgesetzt haben. Das heisst auf keinen Fall, dass abweichende Anschauungen deswegen verboten oder unerwünscht wären.

Es bedeutet aber ohne Zweifel, dass man als Vertreter einer wenig verbreiteten Ansicht mehr Überzeugungsarbeit leisten muss. Aber: Wenn man gute Argumente hat, wird man sich durchsetzen können.

Stichwort gute Argumente: Sie sind absolut unverzichtbar, wenn die Öffentlichkeit Notiz nehmen soll. Das gilt besonders, wenn man sich mit seinen Ansichten von der weitherum anerkannten Meinung – die oft auch als Nullhypothese bezeichnet wird – entfernt. Ich erinnere an den Sagan-Standard: Extraordinary claims require extraordinary evidence, ausserordentliche Behauptungen erfordern ausserordentliche Beweise.

Ein Strohmannargument

Es ist ein Strohmannargument, das Stefan Millius aufbaut: Er kämpft gegen ein Verbot, das es nicht gibt. Das erlaubt es ihm, sich als Kämpfer fürs freie Denken in Szene zu setzen.

Diese Haltung zieht sich durch den weiteren Text. Er zielt auf die Diskussion aus der Anfangszeit der Corona-Pandemie, als man die Vermutung haben konnte, das neue Virus sei etwa so gefährlich wie die saisonale Grippe.

Und nein, auch dieser Vergleich ist nicht «verboten» worden. Es ist wiederum viel einfacher: Es hat sich gezeigt, dass er nicht zutreffend ist. Und wie auch immer man die Gefährlichkeit einer Krankheit definieren will – um Corona effektiv anzugehen, benötigen wir andere Massnahmen als bei einer Grippewelle.

Dieser Grundsatz hat sich durchgesetzt. Ebenso die Einsicht, dass es zwischen den beiden Krankheitserregern gewisse Ähnlichkeiten und wichtige Unterschiede gibt.

Stefan Millius’ Kampf ist sinnlos

Nochmals zurück zu «Fest & flauschig». In dieser Folge gibt es am Ende eine Aufzeichnung eines Vortrags von Christian Drosten, in dem der Virologe auch erklärt, in welcher Weise sich Influenza- und Corona-Viren unterscheiden. Man erfährt beispielsweise, warum erstere häufiger mutieren als letztere. Es gibt diesen Vortrag auch als Video bei Youtube:

Dieses Video hilft einem zu verstehen, dass der Kampf, den Stefan Millius und «Die Ostschweiz» führen, sinnlos ist. Er stellt die Massnahmen gegen Corona infrage. Auch das ist nicht verboten. Aber es bringt keinen Erkenntnisgewinn, wenn es mit dem verschwörungstheoretischen – und unbewiesenen – Ansatz passiert, irgendjemand wolle eine unbequeme Wahrheit unterdrücken.

Die eigentliche Erkenntnis aus dem Text ist vermutlich nicht die, die uns Millius vermitteln wollte. Sie besteht nicht darin, dass Corona so harmlos ist wie die saisonale Grippe. Es ist vielmehr die, dass die Grippe gefährlicher ist, als es den meisten von uns bewusst ist. Christian Drosten erwähnt in seinem Vortrag auch die Spanische Grippe. Das war bekanntlich ebenfalls eine Pandemie. Und eine, die ein Vielfaches an Menschenleben gefordert hat als Corona bis jetzt.

Man könnte sogar etwas lernen

Und ja: Es ist aufschlussreich zu erfahren, was wir daraus gelernt haben. Darum ist es auf gar keinen Fall verboten, Corona und Influenza zu vergleichen. Aber man sollte es nicht als Kämpfer gegen ein nicht existierendes Denkverbot tun, sondern als neugieriger Mensch, der seinen Horizont auch tatsächlich erweitern möchte.

Beitragsbild: Nimm das, Denkverbot! (Musa Ortaç, Pexels-Lizenz)

3 Kommentare zu «Die tapferen Kämpfer gegen Zensur und Denkverbote»

  1. Es sind mir Fälle bekannt, in denen Kommentare und Videos von Facebook gelöscht wurden. Darin wurde Unsinn behauptet, Sachen wie, die Schweiz sei eine Diktatur oder das Tragen von Masken mache krank. Aber es war nicht strafrechtlich relevant.

    Was die „Rebellen“ bei ihrem Zensur-Geschrei vergessen: Facebook ist eine private Firma. Diese kann selbst entscheiden, welche Beiträge sie löscht. Wenn Zuckerberg befiehlt, dass er ab morgen keine Katzenvideos mehr sehen will, werden diese gelöscht. Auch Zeitungen, die Leserbriefe zur Veröffentlichung auswählen, sind frei in ihrer Auswahl. Das hat nichts mit Verstoss gegen die Meinungsfreiheit zu tun.

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