Per App in die Achtzigerjahre

Mit VHS Camcorder verwandelt man qualitativ hochwertige, digitale Videoaufnahmen in Artefakte einer anderen Zeit: Nach der Behandlung mit dieser App sehen sie aus, als ob sie mit einem billigen Camcorder auf Videoband aufgenommen würden wären.

Zugegeben: Diese App ist Geldverschwendung. Kein Mensch braucht sie. Gleichzeitig ist sie einfach grossartig, weil charmant, retro und ansprechend gemacht.

Das jugendliche Erscheinungsbild kann die App leider nicht wiederherstellen.

Ich meine die App VHS Camcorder. Sie simuliert eine Videokamera aus den 1990er-Jahren, respektive die Qualität und Anmutung der Aufnahmen aus solchen Geräten.

Und das tut sie glaubwürdig: Sie gibt den Aufnahmen ein aus heutiger Sicht groteskes Bildrauschen, leicht ausgewaschene Farben, die von der nicht so ganz stabilen Spurlage herrührenden wackeligen Kanten. Am unteren Rand franst das Bild aus. Ab und zu läuft eine Störung durchs Bild, das natürlich das Seitenverhältnis 4:3 aufweist. Und in klobigen Ziffern ist die Aufnahmezeit eingeblendet.

Also genauso, wie Leute wie wir, die mit diesen klobigen Kassetten aufgewachsen sind, das in Erinnerung haben. Es gibt die App für Android und fürs iPhone und iPad. Sie ist gratis, doch wenn man sie vernünftig benutzen will, muss braucht man die Pro-Funktionen für 4 Franken.

Unverzichtbar: Die nervigen Einblendungen, die damals als technisches Nonplusultra galten

Die App ist einfach in der Benutzung. Man wählt die Rück- oder, über den Selfie-Knopf, die Frontkamera. Über Titler blendet man ein kurzes Sätzchen in die Aufnahme ein. Und mit den T– und W-Knöpfen zoomt man weg oder heran – natürlich etwas holperig, wie sich das für einen günstigen Camcoder gehört.

Im Menü kann man bei der Vollversion das Aufnahmedatum fälschen – und zum Beispiel die Jahreszahl um dreissig Jahre in die Vergangenheit setzen. Es gibt diverse Videofilter, die man auch im Live-Bild durch horizontales Wischen durchblättert. Man hat alternative Schriften für die Einblendung zur Verfügung, kann die Zeit im 24-Stunden-Format angeben und angeben, ob wenigstens der Ton sauber aufgenommen werden soll.

Die App hat auch professionelle Einstellungen: So kann man die Framerate nicht nur auf 30 oder 60 fps setzen, sondern auch auf 24, 25 oder 50 fps. Das ist dann sinnvoll, wenn man die Aufnahmen in einer ernsthaften Produktion verwenden möchte. Übrigens: Man kann nebst 480p auch 720p und 1080p wählen. Das ist etwas widersinnig, da VHS den Zeilensprung kennt und ein Frame um die 22 bis 240 Bildzeilen hat. Aber ich nehme an, da werden einfach die Bildfehler in höherer Qualität gerendert.

Eine Zeitreise – zumindest die Anmutung des Videomaterials betreffend

Meine junges Alter-Ego beim Ziegenfüttern. Die Aufnahme stammt allerdings nicht ab VHS, sondern aus einem Super-8-Film.

Fazit: Wenn man nun noch ein Wohnzimmer kennt, das in den letzten dreissig Jahren nie neu möbliert wurde und noch ein paar zeitgemässe Modesünden im Kleiderschrank hat, dann steht der Zeitreise nichts im Weg. Natürlich, am schwierigsten zu fälschen ist die jugendliche Frische, die wir in den Achtzigern und Neunzigern alle noch versprüht haben.

Abgesehen davon finde ich es verblüffend, wie wichtig die Anmutung von Bild- und Tonaufnahmen für unser Empfinden der Authentizität ist. Das sieht man zum Beispiel dann, wenn historische Aufnahmen nicht schwarzweiss und grieselig, sondern hervorragend restauriert und koloriert daherkommen: Dann wirken sie nicht mehr uralt und längst vergangen, sondern gegenwärtig. Ich habe They Shall Not Grow Old von Peter Jackson noch nicht gesehen. Aber ein Rezensent meinte, paraphrasiert, ungefähr das: Durch den modernen Look sind die Aufnahmen nicht historisch, nein, sie gehen uns direkt etwas an.

Passend zur Retrowelle

Die App jedenfalls passt gut in die derzeitige Retrowelle, wo bei Netflix gefühlt jede zweite neue Produktion in den 1980ern spielt: Dynasty, Stranger Things, The Americans, Glow, Wet Hot American Summer, natürlich auch The Crown und 13 Reasons Why. For All Mankind von Apple+ wird in der nächsten Staffel dann offenbar auch in den 1980ern angelangt sein. Und es gäbe noch viele weitere Beispiele…

Beitragsbild: Wäck (Anthony/Unsplash, Unsplash-Lizenz)

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