Es geschehen Zeichen und Usability-Wunder

Ich habe 2019 häufig über die maximal einfachen Text-Apps gesprochen, die mit der Markdown-Auszeichnungssprache arbeiten. Dieser Trend zur neuen Einfachheit ist genauso logisch wie verblüffend – und ein Segen für jeden, der kreativ schreiben mag.

Keine Angst, dieser Beitrag hier artet nicht in einen verfrühten Jahresrückblick aus. Den machen wir jeweils beim Nerdfunk, und damit ist der Sache auch Genüge getan.

Aber eine kleine Sache wäre doch: Mir ist aufgefallen, wie oft ich hier im Blog dieses Jahr über Markdown geschrieben habe. Es waren knapp ein Dutzend Artikel.

Das liegt daran, dass mich das Thema auf zwei Ebenen fasziniert. Erstens natürlich auf der sachlichen Ebene: Es gibt diverse Apps, Dienste und Möglichkeiten, die man ausprobieren, vorstellen und erklären kann.

Der unerwartete Trend zurück

Zweitens auf der Meta-Ebene: Markdown ist ein spannendes Beispiel für eine untypische Entwicklung. Es gibt sicher Leute (zum Beispiel bei Microsoft), die sie als Rückschritt ansehen würden. Denn wer eine klassische Textverarbeitung wie Word gegen einen Markdown-Editor eintauscht, der ersetzt ein hochgezüchtetes Produkt durch ein viel einfacheres. Der Markdown-Editor hat im Vergleich viel weniger Funktionen. Er ist geradezu primitiv – zumindest oberflächlich betrachtet.

Ich teile die Ansicht nicht. Ich betrachte die Abkehr von der komplexen Textverarbeitung und die Zuwendung zum einfachen Editor als Fortschritt. Denn aus Nutzersicht findet eine klare Spezialisierung statt – und die ist meiner Ansicht nach ein deutliches Anzeichen für technische Progression.

Denn Word und andere klassische Textverarbeitungen sind als universelles Instrument gedacht. Word zielt als Teil von Office zwar auf die Geschäftswelt ab. Doch man soll damit sämtliche Dokumentsorten erstellen, die in irgend einer Form Text enthalten: Vom Geschäftsbrief über das Memo bis hin zu Lebensläufen, Zeitungen, Büchern oder sogar Websites (so unsinnig das auch ist).

Kreativer schreiben dank Markdown

Der Markdown-Editor hingegen richtet sich an eine kleinere Zielgruppe: An Leute, die in irgendeiner Form kreativ schreiben. Und da sind viele Dinge nebensächlich, die bei Word eine zentrale Rolle spielen. All die Formatierungsinstrumente braucht man als Autor nicht. Man muss sein Werk nicht als Serienbrief verarbeiten. Auch das Inhaltsverzeichnis kommt erst später dazu, wenn ein Manuskript die Produktionsstufen zum Endprodukt durchläuft.

In einem Patentrezept-Video für die Tamedia habe ich diese Erkenntnisse alle kurz und knackig in drei Minuten zusammengefasst – inklusive einer schnellen Einführung in Markdown:


Word gehört aufs Altenteil

Mir ist neulich eingefallen, dass ich vor 16 Jahren ein Interview dazu geführt habe. Ich habe damals mit Professor Helmut Krueger von der ETH Zürich über Benutzerfreundlichkeit gesprochen. Auf die Frage nach den grössten Verstössen gegen die «Benutzungsfreundlichkeit», wie er das nennt, gab er folgende Antwort:

Der Grundfehler ist, dass die meisten eine Eier legende Wollmilchsau bauen, also zu viele Funktionen in ein Programm hineinstecken. Die grossen Pakete, die wir von Microsoft oder anderen Anbietern bekommen, sind Baukästen. Ich bräuchte eine Person, die diese Baukästen kennt und sie anpasst. Und zwar für die Person und ihre spezifische Aufgabe: die aus Office etwa eine Schreibmaschine macht.

Die Markdown-Editoren erfüllen genau diese Forderung – wenngleich nicht auf die beschriebene Art und Weise. Sie sind nicht zurechtgestutzte Varianten der grossen Pakete, sondern Apps, die auf ihre spezifische Zielgruppe hin neu gedacht worden sind. Was noch besser ist!

Das ist er, der real existierende Fortschritt

Es gibt ihn also tatsächlich, den Fortschritt – auch in so einem schwierigen Gebiet wie der Usability. Damals bestand eher die Befürchtung, dass es noch schlimmer wird:

Es werden wieder adaptive Systeme gebaut. Systeme, die sich automatisch anpassen. Damit ist ein Benutzer völlig desorientiert.

Krueger meinte damit unter anderem die adaptiven Menüs. Das war eine Erfindung von Microsoft, bei der in Office wenig gebrauchte Befehle automatisch ausgeblendet wurde. Das hätte die Menüs übersichtlicher machen sollen. Aber es hatte zur Folge, dass man gerade die Befehle, die man nur selten benötigt und bei denen man nicht genau weiss, wo sie stecken, nicht mehr gefunden hat. Das war eine Fehlentwicklung, bei der völlig klar war, dass sie bloss verwirrt – und die Menüs sind denn auch recht schnell wieder verschwunden.

Warum die Benutzerfreundlichkeit oft auf der Strecke blieb, hat Krueger wie folgt begründet:

Das Marketing passiert auf dem Papier, Marketing ist statisch. Die Benutzung ist dynamisch. Sie kaufen sich beispielsweise einen schönen Stuhl nach dem Aussehen. Ob Sie richtig drauf sitzen können, das merken Sie nach einer halben Stunde – also erst zu Hause, weil Sie sich diese Zeit beim Kaufen nicht genommen haben.

Auch das ist einleuchtend. Und noch zwei Zitate, die uns etwas vor Augen führen. Nämlich, dass sich in manchen Bereichen in den letzten anderthalb Jahrzehnten enorm viel verändert hat – und dass wir auf anderen Gebieten nicht viel weiter gekommen sind.

Die Handys: maximal benutzerunfreundlich

Das erste Beispiel sind die Handys (von Smartphones sprach man noch nicht). Sie waren die benutzerunfreundlichsten Geräte überhaupt:

Das Handy trifft ein Grundbedürfnis, da sind Kompromisse nötig. Die Leute wollen ein Gerät haben, das sie in der Westentaste unterbringen können. Also müssen die Tasten klein sein. Dennoch gibt es SMS, wo sie sehr schnell Text eingeben müssen.

Das ist aus ergonomischer Sicht krude, aber zu einem Sport geworden. Die Bedienung ist ein Hürdenlauf, bei dem der Schnellste gewinnt. Man kann sich beweisen; die schwierige Bedienbarkeit wird zum positiven Aspekt.

Zweitens die erweiterte Realität, mit der sich Helmut Krueger damals an der ETH beschäftigt hat:

Sie öffnet den Normalbürgern Sinneswelten oder neue Bereiche ausserhalb der normalen Wahrnehmung. Sie hilft, komplizierte Sachverhalte in der Medizin oder den Naturwissenschaften zu verstehen. Wir entwickeln ein Programm, mit dem Lehrlinge lernen, Moleküle zusammenzubauen. Die einzelnen Bausteine können zusammengefügt werden.

Sobald sie die richtige Stellung einnehmen, rasten die Moleküle ein. Der Lehrling hat Stellvertreterobjekte in der Hand, aus deren Position der Computer ein dreidimensionales Bild echter Moleküle errechnet. So haben die Benutzer gleichzeitig ein räumliches Sehen, aber auch das taktile Gefühl dafür: Sie be-greifen es im eigentlichen Sinn des Wortes.

Das Interview war am 3. November 2003 unter dem Titel «Die Eier legende Wollmilchsau ist out» im Tagesanzeiger zu lesen.

Beitragsbild: Alexander Andrews/Unsplash, Unsplash-Lizenz

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