Führt man heute noch Tagebuch? Auf die klassische Weise, auf gebundenem Papier und mit Bleistift wohl nicht – wo die Tränen auf dem Papier von Liebeskummer und die zittrige Schrift von seelischer Verzweiflung zeugen. Ich erinnere mich, dass ich in meinen Teenagerjahren einige Bände auf diese Weise vollbekommen habe.
Ich hoffe, dass ich mich richtig erinnere und einmal all diese Hinterlassenschaften in einer anständigen Bücherverbrennung beseitigt wurden. Es könnte jedoch auch sein, dass meine Eltern sie im Bemühen um mehr Platz im Keller an einen Flohmarkt gebracht und an eine unbekannte Partei veräussert haben. Vielleicht sitzt irgendwo einer mit einem guten (oder schlechten) Glas Rotwein auf seinem Chaise longue und versucht, den Niederschriften einen Sinn zu entlocken. Wie das gelingt – mit Entsetzen, Amüsement oder Unverständnis –, wage ich allerdings nicht zu prädizieren.
Also: Es gibt gute Gründe, kein Tagebuch zu führen. Man muss nicht daran denken, diese Zeugisse seines jugendlichen Reifeprozesses rechtzeitig zu vernichten, bevor sie den Kindern oder dem posthumen Entrümpelungskommando in die Hände fallen. Und man kommt selbst nicht in die Versuchung, sich zurück ins Unglück der Jugend zu katapultieren. Und nein – es ist nicht so, dass auch schöne Dinge im Tagebuch stehen könnten. Denn das Tagebuch hat man geführt, weil man im Jammertal feststeckte. Ansonsten würde es einem Teenager doch niemals einfallen, Reflexion oder Introspektion im geschriebenen Wort festzuhalten.
Das Tagebuch in Digital hat etwas für sich
Aber es spricht eigentlich nichts dagegen, zwar kein klassisches, aber ein digitales Tagebuch zu führen – ausser, dass einem womöglich die Zeit dafür fehlt. Jedenfalls kann man Tagebuch-Apps auf dem Smartphone mit Passwort schützen und ganz einfach der Nachwelt vorenthalten.
Ich schätze die App Day One sehr. Es gibt sie fürs iPhone/iPad und den Mac. Ich habe sie seit 2016. Hier im Blog habe ich sie nie vorgestellt, aber immerhin in meinem Video zu den besten Apps dieses Jahres vorgeführt (Wenigstens die Apps können sich sehen lassen). Leider benutze ich die App nicht so konsequent, wie ich sollte und wollte – obwohl man mit Fotos und Videos, GPS-Angaben, Tags und dem automatischen Protokoll von Wetter und Umgebungstemperatur mit wenig Aufwand einen Eindruck davon erhält, was man damals so getrieben hat.
Eine Sekunde täglich
Ich wage darum einen neuen Anlauf mit einer App namens 1 Second Everyday. Es gibt die fürs iPhone und für Android. Die App sieht aus wie eine normale Tagebuch-App: Man vergibt eine Überschrift und schreibt seinen Eintrag. Wenn man nichts zu schreiben weiss, tippt man rechts unten auf den Inspire me-Knopf. Man erhält dann einen Anknüpfungspunkt wie die Frage Is there anything bothering yout today? Why?
Und dann kann man loslegen und schreiben, was einem gerade alles auf den Wecker geht. Es gibt auch Fragen, die positive Gefühle hervorkitzeln, zum Beispiel die nach dem Lieblingsort (Where is your favorite place to go when you just want to get away?) Manche Nutzer mögen sich von solchen Fragen gegängelt fühlen. Aber die müssen ja nicht auf Inspire me tippen.
Der eigentliche Clou der App ist nun aber das sogenannte Snippet. Das steht zuoberst des Eintrags und ist auch auf der Übersicht zu sehen, die den ganzen Monat anzeigt. Wie der Name der App sagt, ist es kein statisches Foto, sondern ein Video von einer Sekunde. (Man darf mit einem Pro-Account auch maximal um zwei Sekunden überziehen.)
Man kann dieses Foto, das irgendwie repräsentativ für den Tag sein sollte, mit der Kamera aufnehmen oder aus der Foto-App auswählen. Dank Live-Fotos muss man kein Video geschossen haben, um ein Snippet zu erhalten: Der Bewegt-Anteil bei einer normalen Aufnahme tut es auch.
Natürlich beschleicht einen an dieser Stelle eine Ahnung, wozu das gut sein könnte. Man kann nach einem Monat, Jahr oder auch nach einer beliebigen Zeit ein fortlaufendes Video daraus erzeugen. Ob das interessant ist oder banal, kann ich bis jetzt noch nicht sagen – dafür benutze ich die App nicht lange genug.
Das hat seinen Reiz
Aber ohne Zweifel hat diese Idee seinen Reiz. Und wenn man sich ein Konzept überlegt und z.B. Videos häufig am gleichen Ort oder bei der gleichen Gelegenheit aufnimmt, dann kommt womöglich sogar so etwas wie Kunst dabei heraus.
Der Rezensent von Techcrunch jedenfalls war ganz angetan:
A few weeks in, I realized the app had a side effect I hadn’t really expected: I was somehow becoming more adventurous. The app was always there, silently nudging me to find something new — to do something that would add a bit of variety to the final product.
Er sei abenteuerlustiger geworden, schreibt er. Weil er in seinen Videos offenbar nicht einfach nur immer am Schreibtisch hockend zu sehen sein wollte, sondern fand, er müsse etwas mehr Abwechslung bieten.
Da kann man sich fragen, ob das auf eine Inszenierung des eigenen Lebens herausläuft oder ob man es mit solchen Ansprüchen noch schafft, sein Leben auf echte und ehrliche Weise zu dokumentieren. Andererseits braucht man das auch nicht zu werten – wenn jemand sich selbst weismachen will, dass das Leben nicht aus Routine, sondern aus täglich frischen Abenteuern besteht, dann soll mich das nicht stören.
Ich jedenfalls werde die App ein wenig weiter benutzen – und sehen, ob sie mein Leben und mich in einem neuen Licht zeigt. Jedenfalls interessiert mich sehr, ob ihr Apps zur Dokumentation eures Lebens verwendet: Und wenn ja, welche Apps und mit welchem Ziel?
Kostenlos, aber mit Pro-Variante
Die App ist kostenlos, doch es gibt, natürlich, einen Pro-Account. Mit dem bekommt man unlimitierte Backups, die Möglichkeit, seine Videos mit (lizenzfreier) Musik zu untermalen, die Einblendung von 1SE, unbegrenzte Projekte, Videolängen von mehr als einer Sekunde und die Regler für Helligkeit und Lautstärke der Videos. Dafür zahlt man 30 Dollar im Jahr oder 4 Dollar im Monat.
Und bevor ihr mich darauf behaftet: Nein, bei 1 Second Everyday gibt es keinen Passwortschutz. Bei Day One allerdings schon (iOS, Mac OS). Bei der App kann man übrigens seine Tagebücher auch als echtes Buch bestellen – damit man etwas zum Verbrennen hat.
Beitragsbild: Liebeskummer lohnt sich sehr wohl, my darling. Jedenfalls, wenn man Tagebuch schreibt (Picjumbo_com/Pixabay, Pixabay-Lizenz).