Wie man Erinnerungen manipuliert

«Game Changer» von Douglas E. Richards beschäftigt sich mit der Idee, was passieren würde, wenn uns Nanobots nicht nur ein Uni-Studium, sondern auch falsche Erinnerungen ins Gehirn pflanzen könnten. Eine interessante Story, die leider einige Mängel hat.

Vor einiger Zeit habe ich über die Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine sinniert. Wir habe immer mehr Möglichkeiten, mit Computern zu interagieren. Da stellt sich unweigerlich die Frage: Was wäre, wenn wir Hirn und Chip direkt verbinden könnten? Wir würden uns Maus, Tastatur und Touchscreen sparen und könnten direkt in künstliche Welten eintauchen. Perfekte Immersion zu Lebzeiten. Und nach dem Tod womöglich die Chance, in emulierter Form weiterzuleben.

Das ist der Stoff, aus dem Sciencefiction-Romane sind. Andreas Eschbach hat ihn in seiner Black out/Hide out/Time out-Trilogie behandelt. Im (bislang offenbar nicht in Deutsch  erhältlichen) Buch Game Changer von Douglas E. Richards geht es um dieses Thema – aber aus einer etwas anderen und interessanten Perspektive.

In der nahen Zukunft haben die Neurowissenschaften rasante Fortschritte gemacht. Es ist möglich, Nanobots ins Hirn zu verpflanzen. Die interagieren nicht direkt mit einem System. Entsprechend ist es nicht möglich, mittels Gedanken zu kommunizieren und einen Computer zu steuern, so wie das in Eschbachs Geschichte passiert. Die Nanobots bauen eine Einweg-Verbindung auf: Sie beeinflussen die neuronalen Verknüpfungen und legen (komplett erfundene) Erinnerungen im Kopf eines Menschen ab. Sie können Gefühle wecken und stimulieren und einen epileptischen Anfall auslösen. Doch der Träger dieser Nanobots merkt nicht, dass sie da sind – und er ist komplett ahnungslos, während er aufs Übelste manipuliert wird.

Das Gedächtnis ist keine Festplatte

Douglas E. Richards setzt bei den aktuellen Erkenntnissen zum Gedächtnis an, die der «New Yorker» in einem grossen Stück ausbreitet: You have no idea what happened, ist die Erkenntnis. Malcom Gladwell ist ein ehemaliger Autor des «New Yorker», und er geht dem Phänomen in den letzten drei Folgen der dritten Staffel seines «Revisionist History»-Podcasts nach (hier, hier und hier). Er macht es sehr deutlich: Unsere Erinnerungen funktionieren eben nicht wie Aufzeichnungen auf einer Festplatte. Sie sind trügerisch.  Sogar dann, wenn wir glauben, uns richtig zu erinnern, können wir komplett daneben liegen. Das haben die Forscher zum Beispiel anhand von 9/11 festgestellt. Jeder glaubt zu wissen, wo er war und was er getan hat, als er vom Anschlag erfahren hat. Aber diese Erinnerungen verändern sich nach Monaten und Jahren.

Schön ist auch die letzte Folge von Gladwells Podcast-Trilogie: Er erklärt, warum sich «The King» Elvis bei seinem Stück «Are You Lonesome Tonight?» so oft bei den Textzeilen vertan hat. Und auch wenn er einen langen Anlauf nimmt, um seine Theorie auszubreiten, ist die letztlich nicht sehr überraschend, sondern nur allzu menschlich. Was den Hörgenuss aber nicht schmälert.

Tolle Technik und obsolete Universitäten

Zurück zu «Game Changer»: Hier gibt es allerlei tolle Technik. Zum Beispiel Drohnen in der Grösse von Stubenfliegen, die als perfektes Spionagewerkzeug dienen können und der englischen Redewendung like a fly on the wall wortwörtliche Bedeutung geben. Und eben: Mittels Nanobots ist das Matrix Learning möglich. Das ist eine Anspielung an den Film Matrix, wo Fähigkeiten wie das Helikopterfliegen in wenigen Sekunden in den Kopf eines Menschen heruntergeladen werden können.

Das hat natürlich Auswirkungen: Ein jahrelanges Hochschulstudium ist nicht mehr nötig, um zur Weltelite aufzuschliessen. Man überträgt das Wissen einfach mittels Nanobots oder MRI, und fertig. Das ist eine Technik, die das Label disruptiv nun wahrlich verdient hat. Zumal sie auch Schattenseiten hat: Man kann den Leuten auch Erinnerungen einpflanzen, die komplett falsch sind – sich für die Betroffenen aber absolut echt anfühlen. (Zumindest so lange sie sie nicht hinterfragen – wenn sie das tun, merken sie, dass die «Textur» fehlt, zu wenige Details vorhanden sind.)

Das Missbrauchspotenzial ist gigantisch – und das ist der Ausgangspunkt dieses Buchs. Man kann mit falschen Erinnerungen Leute dazu bringen, Dinge zu tun, die sie niemals tun würden. Und man kann versuchen, die Welt zu verbessern, indem man gewisse Wesenszüge der Menschheit verändert. Dimitri Khovanov (eventuell nicht die Schreibweise im Buch, da ich das Hörbuch gehört und im Web nirgends einen Verweis auf diese Figur gefunden habe) will genau das: Er hält die Religiosität für ein Problem, weswegen er Massnahmen ergreift, die ihn zum Bösewicht in diesem Thriller machen. Das hat natürlich auch mit der Skrupellosigkeit zu tun, mit der er vorgeht.

Der nächste Michael Crichton?

«Game Changer» ist Science Fiction, die sich sowohl um die Science als auch um die Fiction bemüht. (Um die Fiction noch etwas mehr, aber mehr dazu weiter unten.) Irgendwo habe ich gelesen, Douglas E. Richards werde als «der nächste Michael Crichton» gehandelt. Das ist nachvollziehbar: Die wissenschaftlichen Grundlagen sind nachvollziehbar und nicht völlig hanebüchen. (Im Gegenteil, der Autor erklärt in einem langen Nachwort, was alles echt und wie viel erfunden ist.) Und die Geschichte ist als Thriller angelegt, sodass sie auch von Lesern konsumierbar ist, die gar keine Science Fiction mögen. Ich rechne es Richards hoch an, dass er sich wirklich ernsthaft mit den Implikationen seiner technologischen Entwicklungen auseinandersetzt und die nicht bloss zur Kulisse für seine Handlung degradiert.

Richards diskutiert auch die Fragen, die sich aus diesen disruptiven Techniken ergeben. Was wären die Auswirkungen des Matrix Learning? Bricht ein milliardenschweres Bildungssystem zusammen? Oder ist die Sache nutzlos, weil Wissen nicht gleich Verstehen ist? Eine der Hauptfiguren, Rachel Howard, ist eine brillante Neurowissenschaftlerin an der Harvard-Universität. (Nebenbei bemerkt: Auch die andere brillante Hauptfigur aus der Wissenschaft ist eine Frau, nämlich Andrea Hardie.) Howard beschäftigt sich nicht nur mit der Entwicklung dieser Techniken, sondern denkt von Anfang an auch an die Bekämpfung des Missbrauchs – etwas, das die Computerwissenschaftler, die Erfinder von Web und E-Mail, offensichtlich nicht getan haben. Rachel Howard setzt sich am Ende des Buchs dafür ein, dass das Matrix Learning Open Source wird.

Die Menschheit könnte von einer universellen Sprache profitieren

Das gibt dem Buch trotz aller Terroristen, Mossad-Agenten, Söldnern, versteckten Atombomben und hoch ansteckenden Gehirnmanipulationsviren einen positiven Drall. Wenn es nach Rachel Howard und nach Douglas E. Richards geht, soll die ganze Menschheit profitieren: Wie wäre es, wenn man jedem Menschen eine universelle Sprache einpflanzen könnte, dank der jeder Mensch mit jedem anderen Menschen kommunizieren kann? Es tut sich auch eine neue Chance für die Chancengleichheit auf: Denn wie der Autor eine seiner Figuren erklären lässt, sind es oft die wissenschaftlich nicht Gebildeten, die dank Matrix Learning frappante Durchbrüche erzielen: Sie denken oft kreativer und outside the box. Und wer eine Uni von innen gesehen hat, weiss natürlich, dass dieses System genauso viele Hürden wie Beförderungsmechanismen für kreative Geister bereithält.

Und das ist Fortschrittsglaube im besten Sinn. Ein bisschen Kritik ist trotzdem nötig: Douglas E. Richards will dem breiten Publikum für meinen Geschmack etwas zusehr gefallen. Die Geschichte ist trotz der disruptiven Prämisse konventionell ausgefallen. Ich hätte gern gelesen, wenn Dimitri Khovanovs Plan aufgegangen wäre und er sein Virus freigelassen hätte. Das hat er von Andrea Hardie konstruieren lassen, zum Zweck, die genetische Veranlagung des Menschen zur Religiosität auszurotten. Wie wäre es, wenn die Menschheit von jetzt auf sofort an keinen Gott mehr glauben würde, weil sie es nicht mehr kann? Das wäre spannend zu lesen. Würden die Vorteile überwiegen? Oder wäre es ein zu grosser Schock, wie Douglas E. Richards vermutet? Da der Bösewicht am Ende entkommt, hat sich der Autor diesen Plot vielleicht für einen zweiten Teil aufgehoben.

Die Figuren sind Klischee

Am unangenehmsten machen sich die Bestseller-Ambitionen des Autors beim Stil bemerkbar. Ich hätte das Buch am Anfang fast weggelegt, weil die Figuren und ihre Handlungen derart klischeehaft überzogen daherkamen. Der heldenhafte Geheimagent Kevin Quin, der es mit einem üblen Schurken zu tun bekommt, Matthew Davenport, der dummerweise auch noch Präsident des Landes ist? Ein Imam, der Versöhnung predigt, aber doch ein islamischer Fundamentalist ist? Da denkt man, man habe es mit übelster Pulp Fiction zu tun. Wenn man trotzdem weiterliest, merkt man, dass das alles ein doppeltes Spiel ist und die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen. Das macht es natürlich besser – trotzdem wäre es schöner gewesen, wenn der Autor nicht so dick aufgetragen hätte.

Hier noch die kurze inhaltliche Zusammenfassung, mit den üblichen Spoilern:

Kevin Quin ist Geheimagent und sollte den Präsidenten eigentlich beschützen. Doch er plant ein Attentat, weil dieser Präsident ein Sadist reinsten Wassers ist, der seine (schwangere!) Frau gepeinigt und umgebracht hat. Quins Attentat scheitert. Er flieht, taucht unter, wird verfolgt und schafft es irgendwann, mit seinem ehemaligen Boss Kontakt aufzunehmen. Der sagt: «Kevin, du liegst falsch: Du warst nie verheiratet!»

Es waren implantierte Erinnerungen, die Quin zum Attentat veranlasst haben. Kevin trifft einen israelischen Geheimagenten, der ihm die Sache erklärt. Die Israeli haben im Bereich der Gedächtnismanipulation und beim Matrix Learning verblüffende Durchbrüche erzielt. Leider hat die Sache Nebenwirkungen: Die meisten der Versuchsprobanden sind irgendwann nach der Behandlung verrückt geworden. Da sich in Israel sehr viele Leute, auch die halbe Regierung des Landes, Wissen haben implantieren lassen, droht nun eine echte Katastrophe.

Eine mächtige Waffe gegen die Religion

Einer der Wissenschaftler, Dimitri Khovanov, gehört dazu. Er will den Kampf gegen die Islamisten im Speziellen und die Religion im Allgemeinen ein für alle Mal entscheiden – und dabei ist er nicht zimperlich. Eine klassische False Flag-Attacke mit einer Atombombe auf San Francisco solls richten: Die wird  von einem Imam ausgeführt, nachdem der ebenfalls mit falschen Erinnerungen und Gedanken manipuliert worden ist. Danach wird die US-Regierung nicht mehr zögern, und den sogenannten islamischen Staat endgültig ausradieren. Und da gibt es auch noch das Virus von Andrea Hardie. Sie hat es im Glauben entwickelt, damit Khovanovs kranke Schwester von der Epilepsie heilen zu können. Stattdessen hat sie eine mächtige Waffe gegen die Religion geschaffen.

Der Plan von Khovanov wird vereitelt; durch einen raffinierten Schachzug von Rachel Howard, bei dem die Israeli in ihrem Auftrag das US-amerikanische Mobilfunknetz für einige Zeit übernehmen und die Nanobots in den Köpfen der amoklaufenden Opfer von Khovanov dazu bringen, deren Hirne auszuschalten. Und es gibt ein Happy End: Kevin Quin und Rachel Howard kommen privat zusammen. Rachel Howard entscheidet sich, für die Israeli das Problem mit den Nebenwirkungen des Matrix Learnings anzusehen und auszuräumen.

Beitragsbild: Ein Nanobot im Angriffsmodus (meo/Pexels, CC0)

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