Ist fernsehen noch ein Ding? Ich habe neulich mit Digichris eine Nerdfunk-Sendung zu dieser Frage gemacht: Der Strassenfeger wurde weggefegt. Während der Vorbereitungen für die Sendung habe ich zum Nein tendiert. Netflix hat unser Sehverhalten nachhaltig verändert. Live schalten wir noch zum Tatort ein und einmal im Jahr zum Concours eurovision de la chanson. (Ja, ich bin so alt, dass ich den nicht Eurovision Song Contest nenne.)
Doch während der Sendung habe ich gemerkt, dass meine Meinung nicht in Stein gemeisselt ist: Der Ereignischarakter der «Strassenfeger», die es heute kaum mehr gibt – die haben etwas für sich. Sie haben etwas Verbindendes für die Fernsehnation. Und diese Klammerfunktion ist etwas, das die Kreise mit dem No-Billag-Vernichtungswunsch nicht erkannt haben oder geringschätzen. Aber es geht ja nicht nur ihnen so: In meiner Jugend herrschte in meiner Familie die (nicht ganz einhellige) Meinung, das Fernsehen sei ein Verdummungsmedium.
Ausdruck dieses Zeitgeistes war Neil Postmans Buch Wir amüsieren uns zu Tode, das ich seinerzeit in der Schule gelesen habe. Ich erinnere mich, dass mich mein Lehrer explizit aufgefordert hat, es kritisch zu lesen und die Aussagen zu hinterfragen. Generell und auch, weil es auf den amerikanischen Fernsehmarkt zielt, der bekanntlich einige markante Unterschiede zum hiesigen Angebot aufweist.
Der grossartige Moment, wenn eine festgefahrene Vorstellung ins Wanken kommt
Jedenfalls sind es genau diese Momente in den Radiosendungen, die ich schätze: Die, die mich dazu bringen, meine Haltung zu hinterfragen. Das heisst nicht unbedingt, dass meine Vorbereitung schlecht war. Doch in solchen Fällen hatte ich meist eine Sichtweise nicht auf dem Schirm, die für die gesamte Würdigung wichtig ist. Und diese umfassendere Sichtweise – das ist ein Ding, was die Radiosendungen viel besser leisten als zum Beispiel Blogposts. (Auch wenn es durchaus auch beim Bloggen vorkommt, dass ich so beim dritten, vierten Abschnitt merke, dass meine Ursprungsthese nicht aufrechtzuerhalten ist.)
Ein wichtiger Einflussfaktor war auch, dass ich vor Kurzem die Doku Kulenkampffs Schuhe gesehen habe. Sie ergründet, wie drei Fernsehstars im Nachkriegsdeutschland den Menschen geholfen haben, mit dem Trauma umzugehen. Die Wirkung von Hans-Joachim Kulenkampff, Hans Rosenthal und Peter Alexander war natürlich unterschwellig, wie der Film an kleinen Nebensätzen aufzeigt. Aber sie hat sich nichtsdestotrotz entfaltet. Das wird anhand der parallelen Erzählung von privaten Ereignissen aus der Familie der Autorin, Regina Schilling, fassbar.
Schon mit «Wetten, dass» ging es bergab
Mir sind alle drei Hauptfiguren vertraut, trotz der Anti-Fernseh-Haltung in meiner Familie. Darum wundert es mich auch nicht, dass Jan Böhmermann gerne ein Showmaster vom Kaliber dieser Fernsehtitanen wäre. Doch er arbeitet sich mit Gottschalk am falschen Vorbild ab. «Wetten, dass» war zwar die letzte grosse Samstagabend-«Kiste». Doch eben kein Vergleich mit Kulenkampff, Rosenthal und Alexander, die die Strassen damals leergefegt haben.
Aber das hat natürlich nicht nur mit den Fernsehgrössen zu tun, sondern mit der Fragmentierung der Unterhaltungslandschaft und dem ungleich grösseren Angebot. Heute gibt es schlicht kein Fernsehformat mehr, das die ganze Familie vor dem Bildschirm versammeln würde. Ich hätte damals die Sendungen (bei meinen Grosseltern) auch nicht angeschaut, wenn es mehr als einen Fernseher im Haushalt und mehr als sechs Programme zur Auswahl gegeben hätte (von denen drei am Samstagabend die gleiche Show ausgestrahlt haben). Die Gesangseinlagen fand ich meistens langweilig und die Hälfte der Showelemente überflüssig. Aber so war das halt.
Was hat das lineare Fernsehen noch für einen Stellenwert
Ist Fernsehen noch ein Ding? Eigentlich kann man nicht mit gutem Gewissen Ja sagen, wenn das grosse Argument ein nostalgisches ist. Dinge verändern sich. Darum bleibt wohl oder übel die letzte Woche veröffentlichte Studie Igem-Digimonitor, die besagt, dass TV- und Radio bleiben trotz Streaming-Diensten gefragt bleiben, auch wenn das nicht mehr mit meinem persönlichen Nutzungsverhalten korrespondiert und man womöglich bei der Studie bei der Methodik ein paar Fragezeichen machen könnte.
Wie auch immer, es ist jedenfalls ein ausreichender Grund, im aktuellen Patentrezept-Video einige Fernseh-Apps vorzustellen.
Es geht natürlich um Replay und Aufzeichnungen, und darum, wie man diese Aufzeichnungen zurechtschneidet und digital archiviert. Und eine Frage ist auch, wie man eigene Inhalte via Apple TV und Chromecast auf den grossen Fernseher bringt. Wie im Beitrag Fernsehen in Zeiten der Glasfaser beschrieben, schauen wir inzwischen nur noch via Internet fern und haben dem Kabelanschluss bislang keine Träne nachgeweint.
Beitragsbild: SWR/HR/Kurt Bethke